Lösungen quadratischer Gleichungen auf dem Einheitskreis in der komplexen Ebene

Auf dieser Seite diskutiere ich, wo sich algebraische Zahlen ersten und zweiten Grades auf dem Einheitskreis der komplexen Zahlenebene finden. Von besonderem Interesse ist, welche dieser Zahlen zugleich Einheitswurzeln sind. Hier zunächst die wichtigsten Ergebnisse:

−1 0 1 ζ01 ζ16 ζ14 ζ34 ζ56 ζ13 ζ12 ζ23
Abbildung 1: Die Einheitswurzeln ersten und zweiten algebraischen Grades

Genau zwei algebraische Zahlen ersten Grades, also rationale Zahlen, liegen auf dem Einheitskreis. Sie sind zugleich Einheitswurzeln:

$$\begin{aligned} \zeta_{\frac{0}{1}} &= \phantom{+}1 \\ \zeta_{\frac{1}{2}} &= -1 \end{aligned}$$

Unendlich viele algebraische Zahlen zweiten Grades liegen auf dem Einheitskreis. Genau sechs von ihnen sind auch Einheitswurzeln:

$$\begin{aligned} \zeta_{\frac{1}{4}} &= \phantom{+}\mathrm{i} \\ \zeta_{\frac{3}{4}} &= -\mathrm{i} \end{aligned}$$

und

$$\begin{aligned} \zeta_{\frac{1}{6}} &= \phantom{+}\frac{1}{2}+\frac{\mathrm{i}}{2}\sqrt{3} \\ \zeta_{\frac{1}{3}} &= -\frac{1}{2}+\frac{\mathrm{i}}{2}\sqrt{3} \\ \zeta_{\frac{2}{3}} &= -\frac{1}{2}-\frac{\mathrm{i}}{2}\sqrt{3} \\ \zeta_{\frac{5}{6}} &= \phantom{+}\frac{1}{2}-\frac{\mathrm{i}}{2}\sqrt{3} \end{aligned}$$

Was es damit auf sich hat und dass diese Antworten richtig und zugleich vollständig sind, erläutere und beweise ich im weiteren Verlauf dieser Seite.

Vorbetrachtungen

Was sind komplexe Zahlen?

Eine Zahl $z$ ist eine komplexe Zahl, wenn sie der Form $z=x+\mathrm{i}y$ mit zwei reellen Zahlen $x$ und $y$ und der imaginären Einheit $\mathrm{i}:=\sqrt{-1}$ entspricht. Die Komponente $x$ wird dabei Realteil der komplexen Zahl genannt, kurz $\Re(z)$. Die Komponente $y$ wird Imaginärteil der komplexen Zahl genannt, kurz $\Im(z)$.

Bekanntermaßen hat jede reelle Zahl einen Platz auf dem Zahlenstrahl von $-\infty$ bis $+\infty$. Umgekehrt entspricht jedem Punkt auf dem Zahlenstrahl eine reelle Zahl. Analog dazu hat jede komplexe Zahl einen Platz in der komplexen Zahlenebene, welche durch eine Achse für den Realteil und eine dazu rechtwinklige Achse für den Imaginärteil aufgespannt wird. Umgekehrt entspricht jedem Punkt der komplexen Zahlenebene eine komplexe Zahl.

z = x + i y x y 0
Abbildung 2: Eine komplexe Zahl $z$ als Punkt in der Zahlenebene

Statt die komplexe Zahl zusammengesetzt aus ihrem Realteil und ihrem Imaginärteil (sowie der imaginären Einheit) darzustellen, kann man sie auch durch zwei andere Komponenten definieren, ihre Polarkoordinaten:

z = r (cos φ + i sin φ) φ x y r 0
Abbildung 3: Eine komplexe Zahl $z$ mit Argument $\varphi$ und Betrag $r$

Man kann die Polarkoordinaten in Real- und Imaginärteil wie folgt umrechnen,

$$\begin{aligned} x &= r\cos\varphi\\ y &= r\sin\varphi \end{aligned}$$

sodass $z=r\left(\cos\varphi+\mathrm{i}\sin\varphi\right)$ gilt. Umgekehrt lassen sich die Polarkoordinaten zum Beispiel wie folgt aus Real- und Imaginärteil berechnen:1

$$\begin{aligned} r &= \sqrt{x^2+y^2}\\ \varphi &= \begin{cases} +\arccos\left(\frac{x}{r}\right) &\textrm{wenn } y\geq 0\textrm{ und } r>0,\\ -\arccos\left(\frac{x}{r}\right) &\textrm{wenn } y<0\textrm{ und } r>0,\\ \mathrm{unbestimmt} &\textrm{wenn } r=0 \end{cases} \end{aligned}$$

Was sind Einheitswurzeln?

Mit Einheitswurzeln sind all jene komplexen Zahlen gemeint, die eine $n$-te Potenz besitzen, welche genau eins ist. Dabei darf $n$ jedwede positive ganze Zahl sein. Einheitswurzeln sind also alle Lösungen für $z$ der Gleichung:

$$z^n=1$$

Auf dieser Seite werden Einheitswurzeln auch mit $\zeta$ bezeichnet, dem griechischen Kleinbuchstaben Zeta. Die Einheitswurzeln befinden sich in der komplexen Zahlenebene allesamt auf einem Kreis mit Radius eins um den Ursprung. Der absolute Betrag jeder Einheitswurzel ist also ebenfalls eins:

$$|\zeta|=1$$
0 r = 1
Abbildung 4: Einheitskreis um den Ursprung der komplexen Zahlenebene

Für ein bestimmtes $n$ hat die Gleichung $z^n=1$ immer $n$ Lösungen. Das heißt, es gibt genau $n$ $n$-te Einheitswurzeln. Diese sind gleichmäßig auf dem Einheitskreis verteilt und eine der $n$ Wurzeln ist stets die eins, denn $1^n=1$.

Daraus folgt: Der Kreisbogen zwischen der positiven reellen Achse und einer Einheitswurzel ist stets ein rationaler Teil des ganzen Kreises. Das Argument der Einheitswurzel ist im Bogenmaß also ein rationales Vielfaches der Kreiszahl $\pi$ und im Gradmaß schlicht eine rationale Zahl.

−1 0 1 ζ09 ζ19 ζ29 ζ79 ζ89 ζ39 ζ49 ζ59 ζ69
Abbildung 5: Die neun neunten Einheitswurzeln

Zum Benennen einer Einheitswurzel hängen wir an $\zeta$ einen Index an, der sich als $\frac{\arg(\zeta)}{2\pi}$ berechnet.2 Der Bruch gibt an, welchen Teil einer ganzen Umdrehung des Einheitskreises es im Uhrzeigersinn bräuchte, damit die Einheitswurzel auf der $1$ auf der reellen Achse zu liegen kommt.

Was sind primitive Einheitswurzeln?

Wir nennen die $n$-te Einheitswurzel $\zeta_{\frac{m}{n}}$ primitiv, wenn sich $m$ und $n$ nicht mehr kürzen lassen. In Abbildung 5 beispielsweise sind $\zeta_{\frac{1}{9}}$, $\zeta_{\frac{2}{9}}$, $\zeta_{\frac{4}{9}}$, $\zeta_{\frac{5}{9}}$, $\zeta_{\frac{7}{9}}$ und $\zeta_{\frac{8}{9}}$ primitive neunte Einheitswurzeln.

Dagegen sind $\zeta_{\frac{0}{9}}$, $\zeta_{\frac{3}{9}}$ und $\zeta_{\frac{6}{9}}$ keine primitiven neunten Einheitswurzeln, denn:

$$\begin{align} \zeta_{\frac{0}{9}} &= \zeta_{\frac{0}{1}} \\ \zeta_{\frac{3}{9}} &= \zeta_{\frac{1}{3}} \\ \zeta_{\frac{6}{9}} &= \zeta_{\frac{2}{3}} \end{align}$$

Was sind algebraische Zahlen?

Die Menge der algebraischen Zahlen ist eine Teilmenge der komplexen Zahlen. Sie besteht aus allen Nullstellen aller Polynome mit einer Unbekannten und rationalen Koeffizienten mit Ausnahme des Nullpolynoms. Beispielsweise ist $3\sqrt[4]{7}$ eine algebraische Zahl, weil sie eine Nullstelle des Polynoms $z^4-567$ ist, das heißt die Gleichung $z^4-567=0$ löst.

Eine algebraische Zahl besitzt den Grad eins, wenn sie Nullstelle eines Polynoms ersten Grades $a_1z+a_0$ mit rationalen Koeffizienten $a_0$, $a_1$ ist. Anders ausgedrückt: wenn die Zahl Lösung einer linearen Gleichung mit rationalen Koeffizienten ist. Die algebraischen Zahlen ersten Grades sind just die rationalen Zahlen.

Eine algebraische Zahl besitzt den Grad zwei, wenn sie Nullstelle eines Polynoms zweiten Grades $a_2z^2+a_1z+a_0$ mit rationalen Koeffizieten $a_0$, $a_1$, $a_2$ ist, also Lösung einer quadratischen Gleichung, aber nicht zugleich Nullstelle irgend eines Polynoms ersten Grades.

Lösungen quadratischer Gleichungen

Jede quadratische Gleichung mit rationalen Koeffizienten und einer Unbekannten $z$ kann man auch in die Normalform

$$0=z^2+pz+q$$

bringen. Ihre Lösungen lassen sich anhand der p-q-Formel

$$z_{1,2}=-\frac{p}{2}\pm\sqrt{\frac{p^2}{4}-q}$$

ermitteln. Ist $\frac{p^2}{4}-q$ …

Lösungen quadratischer Gleichungen auf dem Einheitskreis

Alle rationalen Zahlen liegen in der komplexen Zahlenebene auf der reellen Achse. Auf dem Einheitskreis können wir rationale Zahlen also nur an Schnittpunkten mit der reellen Achse finden. Die reelle Achse schneidet den Einheitskreis an genau zwei Stellen, $-1$ und $1$. Beide Zahlen sind tatsächlich rational.

0 r = 1 −1 1
Abbildung 6: Schnittpunkte von Einheitskreis und reeller Achse

Es gibt keine reellen algebraische Zahlen zweiten Grades auf dem Einheitskreis: Existierten sie, lägen sie an den Schnittpunkten der reellen Achse mit dem Einheitskreis. Wie soeben gesehen liegen an den Schnittpunkten aber rationale Zahlen, also algebraische Zahlen ersten Grades.

Betrachten wir nun all die Zahlen $z=x+\mathrm{i}y$ auf dem Einheitskreis, die nicht reell sind. Ihr Imaginärteil ist also von null verschieden, $y\neq 0$, und ihr Realteil $x$ liegt zwischen $-1$ und $1$.

0 y r = 1 x z₁ = x + i y z₂ = x − i y
Abbildung 7: Zwei Zahlen $z_1$ und $z_2$ auf dem Einheitskreis

Jede Zahl auf einem Kreis muss dessen Kreisgleichung erfüllen. Die Kreisgleichung des Einheitskreises entspricht schlicht dem Satz des Pythagoras für rechtwinklige Dreiecke mit Hypothenuse der Länge $1$:

$$x^2+y^2=1$$

Subtrahieren wir beiderseits der Kreisgleichung $x^2$ und ziehen danach die Quadratwurzel, erhalten wir zu einem gegebenen $x$ die beiden passenden Werte für $y$ auf dem Einheitskreis:

$$y_{1,2}=\pm\sqrt{1-x^2}$$

Setzen wir dieses Ergebnis in $z=x+\mathrm{i}y$ ein, sind die beiden komplexen Zahlen auf dem Einheitskreis mit Realteil $x$:

$$z_{1,2}=x\pm\mathrm{i}\sqrt{1-x^2}$$

Wir holen die imaginäre Einheit $\mathrm{i}=\sqrt{-1}$ in die Wurzel, sodass:

$$z_{1,2}=x\pm\sqrt{x^2-1}$$

Nun verrät ein Vergleich mit der p-q-Formel, dass $z_1$ und $z_2$ Lösungen folgender quadratischen Gleichung mit der Unbekannten $z$ sind:

$$0=z^2-2xz+1$$

Die Koeffizienten dieser quadratischen Gleichung sind allesamt rational, wenn $x$ rational ist. Also sind ihre Lösungen $z_1$ und $z_2$ genau dann algebraische Zahlen zweiten Grades.

Langer Rede kurzer Sinn: Mit Ausnahme von $-1$ und $1$ ist jede Zahl mit rationalem Realteil auf dem Einheitskreis in der komplexen Ebene eine algebraische Zahl zweiten Grades. Es sind unendlich viele.

Einheitswurzeln ersten und zweiten algebraischen Grades

Im vorigen Kapitel sahen wir, dass algebraische Zahlen ersten beziehungsweise zweiten Grades auf dem Einheitskreis überall dort vorkommen, wo der Realteil rational ist – das heißt wo der Kosinus des Argumentes rational ist. Aber sind das zugleich Einheitswurzeln? Dafür müsste auch das Argument selbst ein rationaler Teil des Vollwinkels sein.

Der Satz von Niven besagt, dass die einzigen rationalen Werte des Sinus, welche für einen rationalen Teil des Vollwinkels auftreten, $0, \pm\frac{1}{2}, \pm 1$ sind.3

Sinus und Kosinus unterscheiden sich nur durch eine Verschiebung um einen rechten Winkel, das ist eine Viertelumdrehung: $\cos(\alpha)=\sin(\alpha+\frac{2\pi}{4})$. Nach einer Viertelumdrehung ist ein rationaler Teil des Vollwinkels noch immer rational und ein irrationaler Teil noch immer irrational. Folglich treten auch unter den Werten des Kosinus von rationalen Teilen des Vollwinkels als einzige rationale Werte $0, \pm\frac{1}{2}, \pm 1$ auf.

−1 −½ 0 ½ 1
Abbildung 8: Die Einheitswurzeln mit rationalem Realteil

Die folgende Tabelle listet alle Einheitswurzeln auf, die sich an jenen Stellen finden, also alle Einheitswurzeln ersten und zweiten algebraischen Grades.

$\cos\varphi=x$ $y=\pm\sqrt{1-x^2}$ $\zeta_s=x+\mathrm{i}y$
$-1$ $0$ $\zeta_{\frac{1}{2}}=-1$
$-\dfrac{1}{2}$ $\pm\dfrac{1}{2}\sqrt{3}$ $\begin{aligned}\zeta_{\frac{1}{3}}&=-\frac{1}{2}+\frac{\mathrm{i}}{2}\sqrt{3}\\ \zeta_{\frac{2}{3}}&=-\frac{1}{2}-\frac{\mathrm{i}}{2}\sqrt{3}\end{aligned}$
$0$ $\pm 1$ $\begin{aligned}\zeta_{\frac{1}{4}}&=\phantom{+}\mathrm{i}\\ \zeta_{\frac{3}{4}}&=-\mathrm{i}\end{aligned}$
$\dfrac{1}{2}$ $\pm\dfrac{1}{2}\sqrt{3}$ $\begin{aligned}\zeta_{\frac{1}{6}}&=\frac{1}{2}+\frac{\mathrm{i}}{2}\sqrt{3}\\ \zeta_{\frac{5}{6}}&=\frac{1}{2}-\frac{\mathrm{i}}{2}\sqrt{3}\end{aligned}$
$1$ $0$ $\zeta_{\frac{0}{1}}=1$

So weit, so gut. Möchtest du mehr wissen? Im Artikel Einheitswurzeln als Quotienten zweier algebraischer Zahlen zweiten Grades wird das Thema noch erweitert.


  1. Bronstein, Semendjajew, Musiol, Mühlig: Taschenbuch der Mathematik. 6. Auflage, Verlag Harri Deutsch, Frankfurt am Main, 2005. Seite 35 f., Formeln (1.133c–d).
  2. Mit dieser Notation gilt: $\zeta_v=\cos(2\pi v)+\mathrm{i}\sin(2\pi v)$.
  3. Weisstein, Eric W.: Niven's Theorem auf MathWorld – A Wolfram Web Resource. Abgerufen am 9. Juni 2023.