Eine Frage der Definition
Was macht ein Lebewesen aus – sind zum Beispiel Viren, Archaeen oder Roboter Lebewesen? Ist etwas allein dadurch, dass es gedacht wird? Kann man überhaupt etwas wissen? Was ist Wahrheit? Fragen wie diese begegneten mir in Schriftwechseln zuletzt mehrfach – Fragen, die man vielleicht als philosophische und wissenschaftliche Probleme auffassen könnte.
Bei all diesen Fragen kam mir der Gedanke, dass man sich die Definitionen genau ansehen sollte – wie ist Leben definiert, wie ist Existenz definiert, wie sind Wissen und Wahrheit definiert. Ich denke, dass die Antworten auf jene vermeintlich philosophischen Fragen nämlich tatsächlich vor allem Definitionssache sind.
Natürlich muss man auch zur Beantwortung anderer Fragen wie „Welcher Weg ist der kürzeste zum Bahnhof?“ oder „Was fange ich mit meiner Lebenszeit an?“ ein Verständnis zum Beispiel für die Worte „Bahnhof“ und „ich“ haben, aber deren Definitionen beantworten die Fragen noch lange nicht. Bei einer Frage wie „Was macht ein Lebewesen aus?“ geht es hingegen um eine Definition.
Streit über Definitionen ist möglich, aber sinnlos
Über eine Definition braucht man sich zunächst weder den Kopf zerbrechen noch streiten. Der Autor einer Definition mag hinterfragen, ob seine niedergeschriebene Definition ausdrückt und nur ausdrückt, was er mit ihr ausdrücken wollte – ob sie also gelungen ist. Ansonsten sind Definitionen nicht falsch oder richtig. Wir sind frei zu definieren, wie wir wollen.
Dennoch werden Fragen wie „Was macht ein Lebewesen aus?“ heiß diskutiert. Einen Grund dafür sehe ich darin, dass es schwer sein kann, zwischen einer sprachlichen Unklarheit und einer sachlichen Unklarheit zu unterscheiden. Letztere wäre wert, ergründet zu werden, aber vermutet man ein sachliches Problem, wo tatsächlich sprachliche Unklarheit herrscht, kann man sich hoffnungslos verrennen.
Ein Dozent und ich konnten einmal keine Einigkeit über einen mathematischen Sachverhalt erzielen. Nach dem Unterricht stellten wir beim Vergleich unserer Fachbücher fest, dass wir der jeweiligen Literatur folgend von unterschiedlichen Definitionen des Zeichens ⊂ ausgegangen waren, und daher über subtil verschiedene Dinge sprachen. Inhaltlich waren wir, ohne es zu merken, von Beginn an derselben Meinung.
In der Mengenlehre findet man (mindestens) zwei verschiedene Definitionen des Zeichens ⊂:
Teilmenge | echte Teilmenge | |
---|---|---|
Notation 1 | ⊂ | ⊊ |
Notation 2 | ⊆ | ⊂ |
Ich bevorzuge die zweite Notation in Analogie zu den gebräuchlichen Zeichen für kleiner als und kleiner oder gleich. So gilt für die Mächtigkeit zweier endlicher Mengen $|A|\leq|B|$, wenn $A$ eine Teilmenge von $B$ ist, und $|A|<|B|$, wenn $A$ eine echte Teilmenge von $B$ ist.
Anders als bei einem Beweis, der tatsächlich korrekt oder fehlerhaft sein kann, ist eine Auseinandersetzung über Notationen allerdings müßig. Meine Vorliebe für die eine macht die andere nicht falsch.
Überzogene Erwartungen an Wörter
Machmal mag ein Streit über Definitionen darin gründen, dass mit der Definition von Wörtern eine Erwartung verbunden wird, die den zu beschreibenden Dingen nicht gerecht wird. Ein Beispiel:
Einerseits versteht man den Menschen als mit einer unantastbaren Würde und einem Recht auf Leben ausgestattet. Andererseits will man Embryos zu Forschungs- und ggf. Therapiezwecken nutzen, aus einer Reihe von Embryos für die künstliche Befruchtung auswählen und noch viel später Frauen unter Umständen einen straffreien Schwangerschaftsabbruch gewähren.
Versucht man, dafür entlang einer Definition des Wortes „Mensch“ Grenzen zu ziehen – zum Beispiel mit der Frage: „Wann wird ein Embryo zum Menschen?“ (oder vielsagend: „Wann ist ein Mensch ein Mensch?“) – sind Schwierigkeiten vorprogrammiert. Das Problem liegt aber meines Erachtens nicht darin, den genauen Zeitpunkt einer Menschwerdung zu finden – wir könnten einen solchen über die Definition des Wortes Mensch festlegen.
Das Problem liegt darin, dass mit dem Wort eine scharfe Trennung – zwischen legitimen und illegitimen Eingriffen, zwischen weitgehend rechtlosen Zellhaufen und Grundrechtsträgern mit unantastbarer Würde – vorgenommen werden soll, obschon die Entwicklung des Embryos offenbar sehr feinstufig fortschreitet. Die Tatsache einer quasi kontinuierlichen Entwicklung lässt sich nicht wegdefinieren.
Es ist also nicht prinzipiell schwierig, die Frage „Wann wird ein Embryo zum Menschen?“ zu entscheiden. Jede Antwort wird aber unbefriedigend bleiben, falls an sie Ansprüche gestellt werden, die nicht zur Wirklichkeit passen.
Missverstandene Definitionsfreiheit
Wenn ich sage, wir hätten die Freiheit zu definieren, wie wir wollen, meine ich: Wir können die Wörter unserer eigenen Ausführungen definieren. Wir können uns auch mit anderen auf eine gemeinsame Definition einigen oder die Definition eines anderen übernehmen.
Die Definitionsfreiheit wäre allerdings missverstanden, würde jemand denken, er könne nach Gutdünken seine eigenen Definitionen den Wörtern im Text eines anderen unterstellen. Ich kann mir nicht aussuchen, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu interpretieren ist, indem ich die Wörter darin neu definiere!
Bedauerlicherweise werden gerade Gesetzes- und Vertragstexte immer wieder uminterpretiert, um Grundrechte auszuhebeln. Typischerweise werden dabei neue Bezeichnungen für Menschen, Dinge oder Taten eingeführt – was von der Definitionsfreiheit gedeckt ist – und dann unterstellt, der Wortlaut der Gesetzes- oder Vertragstexte würde jene Menschen, Dinge oder Taten nicht betreffen – und das ist nicht von der Definitionsfreiheit gedeckt.
Beispielsweise wurde nach den Anschlägen vom 11. September 2001 unterstellt, „scharfe Verhörmethoden“ seien keine Folter, gefangene „ungesetzliche Kombattanten“ seien keine Kriegsgefangenen oder kämpfende deutsche Soldaten im Ausland seien in „kriegsähnliche Verhältnisse“ verwickelt, aber nicht im Krieg.
Außerhalb der Kunst, wo der Künstler die Interpretation vielleicht bewusst allein dem Leser überträgt, sind für den Sinn eines Textes die Definitionen des Autors maßgeblich. Sind diese nicht ausreichend klar ersichtlich, kann eine Diskussion über die richtige Auslegung förderlich sein.
Kommentare
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Ich würde auch"was ist der kürzeste weg von a nach b?" als prämissenabhängig (ergo von der Definition abhängig) sehen. Der kürzeste weg als Vektor dargestellt, oder als luftlinie, oder mit dem Gesetz? So könnte man gegen die fahrtrichtung in die einbahnstrasse einbiegen und x Meter einsparen.
Was das textische angeht wird zurecht im buch 'dolmetschen und übersetzen' als auch in 'sprache - wege zum verstehen' darauf aufmerksam gemacht, dass es ein wissen um die außersprachliche wiklichkeit, den sprachzeichen und dem Autor braucht. Möchtest du mehr davon, hier die begriffe: Roman Jakobsohn; Jakob Bühler; langue akt; prototypen semantik; parole akt; referentielle Bedeutung; Ferdinand Saussure. Darunter findest du spannendes zur Sache.
Ad gesetzestext. In der rechtsauslegung wird unterschieden, ob eine textische auslegung erfolgt, oder eine im sinne des Gesetzes. Die hermeneutik ist ein eigenes gebiet. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Auslegung_(Recht) viele Wege führen nach Rom - oder zur Conclusio.
Aber ich würde all das was ich nun schrieb unter 'prämissen' zusammenfassen. Eine wenn-->dann Sache. Wenn A dann B, nicht B also nicht A. Mathematische logik. Wenn unter rücksicht dann nicht falsch einbiegen, dann +x Meter zum bhf.
Im übrigen ist es instruktiv in zeitungsartikeln und blogs oder sonstigem schriftlichen zu sehen, wie von Prämisse ausgegangen wird ihn dass diese immer kenntlich gemacht werden. So hiess es auf deutschlandradio wissen, eine britische Studie zeigte, dass briefträger die an stark befahrenen strassen zustellten, mehr lungenerkrankungen hatten als eine vergleichsgruppe. Eine lungenärztin folgerte daraus, dass es massnahmen bräuchte. Darin versteckt sich eine Prämisse, nämlich die, dass lungenerkrankungen schlecht wären und verhindert werden müssten, oder, alternativ, lungenerkrankugnen sind gut und die briefträger dürften nichts gutes haben.
Das wäre ein, zwei Gedanken meinerseits.
DB
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Danke für Deinen Kommentar, DB!
Wenn wir mit einander sprechen, hängt der Sinngehalt des Gesagten stets von den Definitionen der verwendeten Wörter ab. Bei der Frage nach dem kürzesten Weg zum Bahnhof also natürlich auch davon, was mit „kürzester Weg“ gemeint ist. Speziell zum kürzesten Weg habe ich im April 2013 mal etwas getippt: https://prlbr.de/2013/04/
Aber zurück zum Thema: Wenn ich irgendwo in einer fremden Stadt stehe und einen Menschen nach dem kürzesten Weg zum Bahnhof frage, und er die Rückfrage stellt, wie ich „kürzester Weg“ definiere, dann könnte ich zum Beispiel antworten: die räumlich kürzeste von Fußgängern gangbare Verbindung im öffentlichen Raum. Dann weiß er, was ich meine und kann mir vielleicht helfen oder auch nicht, je nachdem ob er sich gut in der Stadt auskennt oder vielleicht einen Stadtplan hat.
Bei einer Frage, die vor allem Definitionssache ist, liefe das aber anders: Ich stehe wieder in einer fremden Stadt und frage einen anderen Menschen, ob Spirituosen Alkohol enthalten. Er stellt die Rückfrage, wie ich „Spirituose“ definiere. Ich krame meinen Duden aus dem Rucksack, suche darin kurz und lese vor: „Spirituose, die: stark alkoholisches Getränk“. Mein Gesprächspartner braucht mir nun gar nicht mehr zu helfen, weil die Definition eines Wortes der Frage schon die Frage vollständig beantwortet hat!
Ich hoffe der Unterschied zum ersten Fall verdeutlicht, was ich meine, wenn ich sage, eine Frage sei wie jene nach dem Alkohol in Spirituosen vor allem eine der Definition.
Mit dem notwendigen Kontext beim Übersetzen habe ich auch Erfahrungen gemacht. Ich wurde beispielsweise öfter gebeten, kurze E-Mail-Antworten ins Englische zu übersetzen und hatte mehrfach arge Probleme damit, weil sich der Sinngehalt der E-Mails nicht aus dem mir vorgelegten Text der E-Mails allein erschloss. Um sie zu verstehen, musste man zum Beispiel nicht nur die Antwort, sondern auch die beantworte E-Mail kennen. Würde es aber keines Verständnisses des Kontextes bedürfen, wäre Übersetzen ein Kinderspiel und könnte längst perfekt automatisch geschehen,
vermutet Martin
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Durch umstellen kommst du mit erstem bsp an den gleichen punkt: Ist der kürzeste weg x mit den Strassen c, d und p der am wenigsten lange?. Was ist 'der am wenigsten lange'? "die räumlich kürzeste von Fußgängern gangbare Verbindung im öffentlichen Raum". Joa, dann ja.
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@3: Ich stimme zu, dass „Ist der kürzeste Weg … der am wenigsten lange“ eine Frage der Definition ist. Diese Frage ist allerdings nicht äquivalent zu der des Reisenden in einer fremden Stadt, der aus Unkenntnis der geografischen Lage nach dem kürzesten Weg zum Bahnhof fragt,
bemerkt Martin
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Das schräge an Definitionen ist, dass sie einem einerseits helfen, Dinge zu verstehen und die Welt grundsätzlich begreifbar zu machen.
Auf der anderen Seite sind unsere Definitionen so begrenzt, dass es manchmal schon in Richtung Irreführung geht. Desto mehr man eine Sache verstehen möchte, umso eher wird eine Definition, die am Anfang hilfreich war, unzureichend.
Bei der "Mensch-Frage" ist das, wie von dir beschrieben, auffällig. Einerseits regt der Versuch einer Definition an, darüber nachzudenken, was ein Mensch ist, aber desto mehr man darüber nachdenkt, umso klarer wird, dass bei genauerem Hinsehen keine Grenzen mehr erkennbar sind, an denen man sich klar orientieren kann. Die Sache an sich wird durch die eigene Wahrnehmung, die Wahrnehmung der anderen, unterschiedliche Absichten, die Grenzen der Sprache und der Übertragung "verdeckt".
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@5: Dem kann ich nur zustimmen. Es gibt in der Welt offenbar unterschiedliche Dinge, Prozesse etc., die wir mit verschiedenen Wörtern bezeichnen und uns dann über sie unterhalten können. Oft gibt es allerdings fließende Übergänge, „Zwischendinge“, und wenn man auf diese stößt, bekommen wir da erst einmal etwas nicht in unsere Schubladen einsortiert. Gerade bei Lebewesen, die ja tatsächlich individuell eine Entwicklung durchmachen, aber auch eine ununterbrochene evolutionäre Geschichte mit gemeinsamen Wurzeln besitzen, ist das so. Hinzu kommt teils noch eine kulturelle Entwicklung. Will man Lebewesen in Schubladen packen, die man beschriften kann, muss man Grenzen setzen, gegebenenfalls bei mehrerer Kriterien. Das ist möglich, allerdings wird der Unterschied zwischen Fasern direkt links und rechts eines Schnitts, die in unterschiedlichen Schubladen landen, oft geringer sein, als zwischen anderen Fasern, die in der gleichen Schublade landen. Das wäre dann vielleicht etwas, wo Du sagen würdest, dass eine Definition „in Richtung Irreführung geht“. In die Irre läuft man zumindest dann, wenn man an die Aussagekraft der Definition eine andere Erwartung hat.
Martin
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"Die Definitionsfreiheit wäre allerdings missverstanden, würde jemand denken, er könne..." Die Aussage aus diesen Absatz fand ich ausgesprochen treffend und hat mich angesprochen. Das Übrige jedoch ebenso. Was oder auch wie, du anregst, jeweiils etwas zu überdenken, gefällt mir sehr.
...Vielleicht auch das Wissen über das Wesen der Linguistik sollte allgemein unter Menschen viel öfter, wo es um Definitionen oder Aufklären geht, eine Rolle spielen.
Zudem ist es m.E. wichtig, für sich selbst stets grundsätzlich in Erwägung zu ziehen, dass man sich, obwohl sich sicher fühlend, dennoch gerade in einem Irrtum befinden könnte (wann immer man meint, man habe etwas richtig verstanden oder gedeutet und wisse genau, wie ein Anderer etwas gemeint haben könnte).Darüber hinaus im Sinn zu behalten, was Irrtum eigentlich bedeutet: Nämlich nicht zu merken, dass man sich gerade am Irren ist, denn das Wesen eines Irrtums besteht ja witzigerweise genau darin, sich dessen bei sich selbst gerade nicht bewusst zu sein. Diese Frage zu stellen in etwa so: "Wie überhaupt hast du dies oder das ... eigentlich genau gemeint? Denn ich habe es bis jetzt zumindest einmal so oder so ... verstanden.", fände ich viel öfter, wo Informationen ausgetauscht werden, sehr angebracht. Aus Fehlern, die mir sehr oft auf die Weise passiert waren oder sind, habe ich irgendwann auch diese Sache lernen dürfen.
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Sorry, ich vergaß, meinen Namen unter Kommentar Nr. 7.
"Elisabeth Becker-Schmollmann" -
Vielen Dank für Deinen Kommentar, Elisabeth. Eigentlich erscheint fast selbstverständlich, was Du schreibst. Aber ich denke, tatsächlich könnte auch ich mir die Möglichkeit des eigenen Irrtums öfter bewusst machen, als ich es tue. Das ist ein ausgezeichneter Rat,
findet Martin