Bögen auf dem Einheitskreis halbieren
oder: Real- und Imaginärteil von Quadratwurzeln aus Einheitswurzeln

Der Einheitskreis hat seinen Mittelpunkt im Ursprung des kartesischen Koordinatensystems, den Radius eins und die Kreisgleichung:

$$x^2+y^2=1$$
(1)

Denken wir uns einen fast beliebigen Punkt $P_0(x_0,y_0)$ auf dem Einheitskreis. Als Ausnahme zur gesonderten Betrachtung sei nur der Punkt $(-1,0)$ zur Seite gestellt. Den kleineren Winkel zwischen der positiven $x$-Achse und dem Radius zu $P_0$ bezeichnen wir mit $\varphi_0$ .

x y −1 0 1 P₀ (x₀, y₀) φ
Abbildung 1: Ein Punkt $P_0$ liegt auf dem Einheitskreis.

Gesucht wird der Punkt $P_1(x_1,y_1)$ auf dem Einheitskreis, der den kurzen Kreisbogen zwischen positiver $x$-Achse und $P_0$ halbiert. Die Hälfte des Winkels $\varphi_0$ nennen wir $\varphi_1$. Außerdem suchen wir $P_2(x_2,y_2)$, der den langen Kreisbogen zwischen positiver $x$-Achse und $P_0$ halbiert.

x y −1 0 1 P₀ (x₀, y₀) P₁ (x₁, y₁) P₂ (x₂, y₂) φ φ
Abbildung 2: Die Punkte $P_1$ und $P_2$ liegen einander gegenüber.

Im Sonderfall $P_0=(-1,0)$ sind beide Kreisbögen gleich lang. Für jenen Fall legen wir fest: $P_1=(0,1)$ und $P_2=(0,-1)$.

Vorüberlegung

Die Koordinaten des Punktes $P_2$ lassen sich aus denen von $P_1$ leicht berechnen: $x_2=-x_1$ und $y_2=-y_1$. Konzentrieren wir uns zunächst also darauf, die Koordinaten von $P_1$ zu finden.

x y −1 0 1 P₀ (x₀, y₀) P₁ (x₁, y₁) x x φ φ φ
Abbildung 3: Orange gefärbt sind die Hypothenusen einander ähnlicher Dreiecke.

Wir verbinden $(-1,0)$ links auf dem Einheitskreis mit $P_0$. Das ist in Abbildung 3 die längere orange Strecke. Der Winkel zwischen der $x$-Achse und jener Strecke beträgt gemäß dem Zentriwinkelsatz $\frac{\varphi_0}{2}=\varphi_1$. Außerdem fällen wir von $P_0$ und $P_1$ die Lote auf die $x$-Achse, in der Abbildung türkis. Die Strecken in orange bilden mit den Loten und der $x$-Achse zwei rechtwinklige Dreiecke.

Aufgrund der gleichen Winkel sind die rechtwinkligen Dreiecke einander ähnlich: Sie unterscheiden sich nicht in der Form, sondern nur in der Größe. Die kürzeren Katheten beider Dreiecke stehen folglich im selben Längenverhältnis zueinander wie ihre längeren Katheten:

$$\frac{y_0}{y_1} = \frac{x_0+1}{x_1}$$
(2)

Wir legen uns zudem für die Punkte $P_0$ und $P_1$ die umgestellte Kreisgleichung bereit:

$${y_0}^2 = 1-{x_0}^2$$
(3)
$${y_1}^2 = 1-{x_1}^2$$
(4)

x-Koordinaten

Jetzt können wir eine Formel für $x_1$ in Abhängigkeit von $x_0$ herleiten. Wir beginnen, indem wir beide Seiten der Gleichung (2) mit beiden Nennern multiplizieren, sodass die Brüche verschwinden:

$$y_0\cdot x_1 = (x_0+1)\cdot y_1$$

Wir quadrieren beide Seiten:

$${y_0}^2\cdot{x_1}^2 = (x_0+1)^2\cdot{y_1}^2$$

Darin ersetzen wir ${y_0}^2$ und ${y_1}^2$ so, wie es die Gleichungen (3) und (4) vorsehen:

$$\left(1-{x_0}^2\right)\cdot{x_1}^2 = (x_0+1)^2\cdot\left(1-{x_1}^2\right)$$

Wir multiplizieren die Klammern auf der linken und teils auch auf der rechten Seite aus, wobei wir rechts auf die erste binomische Formel zurückgreifen können:

$${x_1}^2-{x_0}^2{x_1}^2 = (x_0+1)^2-{x_0}^2{x_1}^2-2x_0{x_1}^2-{x_1}^2$$

Addieren wir beiderseits des Gleichheitszeichen alle Terme, die rechts noch mit negativem Vorzeichen stehen, erhalten wir:

$$2x_0{x_1}^2+2{x_1}^2 = (x_0+1)^2$$

Links können wir ausklammern, …

$$2(x_0+1){x_1}^2 = (x_0+1)^2$$

… um dann beide Seiten der Gleichung durch $2(x_0+1)$ zu teilen. Es verbleibt:

$${x_1}^2 = \frac{x_0+1}{2}$$

Wir lösen, indem wir die Quadratwurzel ziehen:

$$x_{1,2}=\pm\sqrt{\frac{x_0+1}{2}}$$
(5)

Da wir mit $P_1$ den kleineren Winkel zwischen positiver $x$-Achse und dem Radius zu $P_0$ halbieren, gehört das positive Vorzeichen vor der Wurzel hier immer zu $x_1$. Mit negativem Vorzeichen erhalten wir $x_2$.

Intermezzo

Die obigen Abbildungen zeigen den gegebenen Punkt im positiven Bereich des kartesischen Koordinatensystems. Eine andere Konstellation demonstriert Abbildung 4 mit $Q_0$ als gegebenem Punkt im negativen Bereich. Eingezeichnet sind auch die beiden die Kreisbögen halbierenden Punkte $Q_1$ und $Q_2$, deren Koordinaten zu berechnen wären.

x y −1 1 Q₀ (x₀, y₀) Q₁ (x₁, y₁) Q₂ (x₂, y₂) φ φ
Abbildung 4: $Q_1$ und $Q_2$ halbieren die Kreisbögen zwischen positiver $x$-Achse und $Q_0$.

Analog zu Abbildung 3 zeigt Abbildung 5 für dieses Szenario zwei einander ähnliche, rechtwinklige Dreiecke, deren Hypothenusen wieder orange und deren vertikale Katheten türkis sind. Auch wenn sich die Abbildungen aufgrund der unterschiedlichen Lage der gegebenen Punkte unterscheiden, kann man nachvollziehen, dass die Gleichungen (2), (3), (4) hier genauso gelten und somit auch die Herleitung der Koordinaten $x_1,x_2$.

x y −1 0 1 Q₀ (x₀, y₀) Q₁ (x₁, y₁) x x φ φ
Abbildung 5: Die Hypothenusen zweier rechtwinkliger Dreiecke sind orange gefärbt.

y-Koordinaten

Wir setzen die $x$-Koordinate aus (5) in Gleichung (4) ein:

$${y_1}^2 = 1-\left(\sqrt{\frac{x_0+1}{2}}\right)^2$$

Quadratwurzel und Quadrat heben sich auf, sodass:

$${y_1}^2 = 1-\frac{x_0+1}{2}$$

Die rechte Seite auf einen Nenner gebracht und zusammengefasst erhalten wir:

$${y_1}^2 = \frac{1-x_0}{2}$$

Ziehen wir beiderseits die Quadratwurzel, erhalten wir den Betrag von $y_1$. Wir müssen aber mit dem Vorzeichen aufpassen. Aufgrund unserer Festlegung, mit $P_1$ den kleineren Winkel zwischen positiver $x$-Achse und Radius zum Punkt $P_0$ zu teilen, hat $y_1$ das gleiche Vorzeichen wie $y_0$. Dieses Vorzeichen bezeichnen wir mit $\mathrm{sgn}(y_0)$. So ist

$$\begin{align} y_1 &= \phantom{-}\mathrm{sgn}(y_0)\sqrt{\frac{1-x_0}{2}}\\ y_2 &= -\mathrm{sgn}(y_0)\sqrt{\frac{1-x_0}{2}} \end{align}$$
(6)

Quadratwurzeln von Einheitswurzeln etc.

Der Punkt $P(x,y)$ in der Euklidischen Ebene entspricht einer komplexen Zahl $z=x+\mathrm{i}y$ in der Gaußschen Zahlenebene. Dort nennen wir $x=\Re(z)$ auch den Realteil und $y=\Im(z)$ den Imaginärteil der Zahl $z$.

Die Punkte auf dem Einheitskreis entsprechen genau allen komplexen Zahlen mit dem Betrag eins. Dies schließt unter anderem alle Einheitswurzeln ein, also alle Lösungen der Gleichung $z^n=1$ mit natürlichem Exponenten $n$.

Die Punkte zu finden, welche die Kreisbögen zwischen der positiven $x$-Achse und einem Punkt $P$ auf dem Einheitskreis halbieren, entspricht der Berechnung der zweiten Wurzeln einer komplexen Zahl $z$ mit $|z|=1$.

−1 0 1 z principal square root of z z second 2nd root of z −   z
Abbildung 6: eine komplexe Zahl $z$ mit Betrag eins und ihre zweiten Wurzeln

Für die Quadratwurzel einer komplexe Zahl $z$ mit $|z|=1$ und $z\neq -1$ können wir aufgrund der oben hergeleiteten Gleichungen also

$$\sqrt{z}=\sqrt{\frac{1+\Re(z)}{2}}+\mathrm{i}\cdot\mathrm{sgn}\left(\Im(z)\right)\sqrt{\frac{1-\Re(z)}{2}}$$
(7)

notieren sowie freilich $\sqrt{-1}=\mathrm{i}$.

Beweis

Um uns zu vergewissern, dass Formel (7) tatsächlich die Quadratwurzel von $z$ liefert, können wir beide Seiten der Gleichung quadrieren und sehen, ob wir wieder $z$ erhalten.

$$(\sqrt{z})^2=\left(\sqrt{\frac{1+\Re(z)}{2}}+\mathrm{i}\cdot\mathrm{sgn}\left(\Im(z)\right)\sqrt{\frac{1-\Re(z)}{2}}\right)^2$$

Rechts die erste binomische Formel angewandt ergibt:

$$(\sqrt{z})^2=\frac{1+\Re(z)}{2}+2\cdot\sqrt{\frac{1+\Re(z)}{2}}\cdot\mathrm{i}\cdot\mathrm{sgn}\left(\Im(z)\right)\sqrt{\frac{1-\Re(z)}{2}}-\frac{1-\Re(z)}{2}$$

Die Differenz aus dem ersten und letzten Term auf der rechten Seite der Gleichung ist schlicht $\Re(z)$. Aus dem Produkt der Wurzeln können wir eine Wurzel eines Produktes machen und den Faktor $2=\sqrt{4}$ mit hineinziehen.

$$(\sqrt{z})^2=\Re(z)+\mathrm{i}\cdot\mathrm{sgn}\left(\Im(z)\right)\sqrt{4\cdot\frac{1+\Re(z)}{2}\cdot\frac{1-\Re(z)}{2}}$$

Unter der Wurzel kürzen sich die $4$ und die beiden Zweien weg. Wir wenden zudem die dritte binomische Formel an.

$$(\sqrt{z})^2=\Re(z)+\mathrm{i}\cdot\mathrm{sgn}\left(\Im(z)\right)\sqrt{1^2-\Re(z)^2}$$

Da $z$ wegen der Voraussetzung $|z|=1$ auf dem Einheitskreis liegt, ist das mit der Kreisgleichung äquivalent zu:

$$(\sqrt{z})^2=\Re(z)+\mathrm{i}\cdot\mathrm{sgn}\left(\Im(z)\right)\sqrt{\Im(z)^2}$$

Rechts steht als Faktor von $\mathrm{i}$ das Produkt aus Vorzeichen und Betrag des Imaginärteils von $z$, also:

$$(\sqrt{z})^2=\Re(z)+\mathrm{i}\cdot\Im(z)=z$$

Was zu beweisen war.