Die Geometrie der Großen Pyramide

Was verraten Breite und Höhe der Cheops-Pyramide über das Wissen der alten Ägypter? Kodierten die Baumeister der Pharaonen im einzigen erhaltenen Weltwunder der Antike die Kreiszahl π, gesprochen „pi“, mit erstaunlicher Präzision oder ging es ihnen um etwas anderes?

Die Pyramide als π-ramide

David Blatner schreibt in seinem Buch „π – Magie einer Zahl“:1

Die Große Pyramide in Gise weist eine faszinierende Beziehung auf: Das Verhältnis einer Seite zur Höhe entspricht ungefähr π / 2. Ägyptologen und Anhänger mystischer Lehren haben sich jahrhundertelang den Kopf zerbrochen, was dieser Umstand bedeuten und wie er zustande gekommen sein könnte, denn die Näherung ist erheblich besser als der Wert für π, der den alten Ägyptern, soweit wir wissen, bekannt war …

Die Cheops-Pyramide wurde im Alten Reich Ägyptens knapp 2600 Jahre vor unserer Zeitrechnung auf einem Plateau nahe dem Unterlauf des Nils errichtet. Sie ist das älteste der Sieben Weltwunder der Antike und zugleich das einzige, welches heute noch steht. Für mehr als 3800 Jahre war die Große Pyramide das höchste Gebäude der Welt.2 Dass die Große Pyramide aus den zurückliegenden Jahrtausenden mehr als nur Kratzer davontrug, verwundert nicht. Die einst glatte Kalksteinverkleidung wurde fast komplett abgetragen, die Spitze abgeflacht. So kann man heute nur schätzen, wie hoch und breit die Pyramide einst war.

Cheops-Pyramide, Foto von Nina Aldin Thune3

Bei einer Kantenlänge von etwa 230,4 Metern lässt sich vom beobachteten Böschungswinkel auf eine ursprüngliche Höhe von circa 146,6 Metern schließen. In der Breite entspricht das 440 ägyptischen Königsellen und vermuteten 280 in der Höhe.4 Tatsächlich weicht das Verhältnis 440 / 280 nicht einmal um 0,5 Promille von π / 2 ab. Der älteste aus Ägypten schriftlich überlieferte Wert für die Kreiszahl π entspricht hingegen dem Verhältnis 256 / 81. Er stammt aus dem zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, ist also mehrere Jahrhunderte jünger,5 und wurde über einen längeren Zeitraum verwendet.6 Zum Vergleich: Seine Abweichung vom korrekten Werk beträgt etwa 6 Promille.

Überlieferung nach Herodot

In David Blatners Buch „π – Magie einer Zahl“ geht es aber noch weiter:

Doch Herodot hat geschrieben, die Pyramide sei so konstruiert, daß der Flächeninhalt jeder Seitenfläche gleich der Fläche eines Quadrates sei, dessen Seitenlänge der Pyramidenhöhe entspräche. Es läßt sich zeigen, daß jede Pyramide, die diese Merkmale aufweist, damit automatisch eine Annäherung an π darstellt.

Ob der antike Geschichtsschreiber Herodot es tatsächlich so meinte, ist unsicher. Andere Kommentatoren interpretieren seine Beschreibung dahingehend, dass die Pyramide genauso breit wie hoch sei.7 Das wäre zwar falsch, kann aber von Herodot so gemeint und geglaubt worden sein. Im Folgenden halte ich mich allerdings an die bei Blatner wiedergegebene Interpretation der Flächengleichheit.

Links: Laut Herodot gilt bei der Cheops-Pyramide $h^2=A_s$
Rechts: Strecken an einer Pyramide

Stimmt die Behauptung, dass aus der Flächengleichheit einer Seitenfläche und der Pyramidenhöhe zum Quadrat ein an π / 2 angenähertes Verhältnis von Kantenlänge zur Höhe folgt?

$$(h^2=A_s)\Rightarrow\left(\frac{a}{h}\approx\frac{\pi}{2}\right)$$

Ja, und ein Beweis findet sich im folgenden Abschnitt:8

Gehen wir von der Voraussetzung aus:

$$h^2=A_s$$

Auf der linken Seite der Gleichung steht das Quadrat der Pyramidenhöhe. Auf der rechten Seite findet sich die Seitenfläche. Sie hat die Form eines Dreiecks. Die Fläche eines Dreiecks berechnet sich als das halbe Produkt einer Kantenlänge des Dreiecks, wir nehmen die Breite a der Pyramide, und der Dreieckshöhe s, die auf dieser Kante steht. Eingesetzt ergibt sich:

$$h^2=\frac{as}{2}$$

Die Dreieckshöhe s darf man nicht mit der Höhe der Pyramide verwechseln. Sie entspricht stattdessen dem schrägen Weg, den man nimmt, wenn man mittig vor einer Seite am Fuß der Pyramide steht und zu ihrer Spitze klettert. Sie ist die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks, dessen Katheten die Höhe h der Pyramide und die halbe Kantenlänge a / 2 sind. Mit dem Satz des Pythagoras $s^2=h^2+\left(\frac{a}{2}\right)^2$ wird aus der vorigen Gleichung also:

$$h^2=\frac{{a}\sqrt{h^2+\left(\frac{a}{2}\right)^2}}{2}$$

Nun stehen nur noch die Kantenlänge a und die Pyramidenhöhe h in der Gleichung. Um die Wurzel loszuwerden, kann man beide Seiten der Gleichung quadrieren:

$$h^4=\frac{a^2h^2+\frac{a^4}{4}}{4}$$

Den unschönen Doppelbruch auf der rechten Seite der Gleichung wird man durch Erweitern mit vier los:

$$h^4=\frac{4a^2h^2+a^4}{16}$$

Dies lässt sich umstellen zu:

$$16h^4-4a^2h^2-a^4=0$$

Letztendlich interessiert uns das Verhältnis von Kantenlänge und Pyramidenhöhe. Es wird sich zeigen, dass es geschickt ist, die Gleichung beiderseits durch $a^4$ zu teilen, um dahin zu kommen:

$$16\frac{h^4}{a^4}-4\frac{h^2}{a^2}-1=0$$

Erlaubt man sich nun, als Abkürzung $x:=4\frac{h^2}{a^2}$ zu definieren, bleibt Folgendes übrig:

$$x^2-x-1=0$$

Das ist eine quadratische Gleichung, die nicht zum ersten Mal auf dieser Webpräsenz auftaucht. Ihre positive Lösung – und eine positive Lösung suchen wir, da die rechte Seite der Abkürzungsdefinition zweifellos positiv ist – ist der Goldene Schnitt $\phi=\frac{\sqrt{5}+1}{2}$. Aus unserer Abkürzung wird damit:

$$\phi=4\frac{h^2}{a^2}$$

Dies umgestellt bringt:

$$\frac{a^2}{h^2}=\frac{4}{\phi}$$

Nun noch die Quadratwurzel ziehen und man erhält als positive Lösung:

$$\frac{a}{h}=\frac{2}{\sqrt{\phi}}\approx1.5723$$

Die Abweichung dieser Lösung zu $\frac{\pi}{2}\approx1.5708$ beträgt knapp 1 Promille, womit wir die Behauptung als belegt ansehen können.

Herodot lebte im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Zu seiner Zeit stand die Cheops-Pyramide bereits zwei Jahrtausende umgeben von Wüstensand. Für Herodot lag der Bau der Pyramiden in ebenso grauer Vorzeit, wie für uns heute Herodot selbst. Man kann daher annehmen, dass Herodot nicht wusste, ob die Pyramide absichtlich „so konstruiert [wurde], daß der Flächeninhalt jeder Seitenfläche gleich der Fläche eines Quadrates sei, dessen Seitenlänge der Pyramidenhöhe entspräche“, sondern diese Beziehung am Bauwerk feststellte. Ob die alten Ägypter diesen Umstand anstrebten oder er sich aufgrund eines anderen Zieles ergab, bleibt zu enträtseln.

Die Pyramide als φ-ramide

Im obigen Beweis, dass aus Herodots Flächengleichheit die Annäherung an π / 2 und umgekehrt aus dem Breite-Höhe-Verhältnis π / 2 ebenso die ungefähre Flächengleichheit folgt, taucht an der Großen Pyramide der Goldene Schnitt φ (gesprochen „fi“) auf. Es lässt sich zeigen, dass die Höhe der dreieckigen Seitenfläche s zur Kantenlänge der Pyramide im Verhältnis φ / 2 steht:

Nehmen wir die vorletzte Gleichung des Beweises oben als Ausgangspunkt:

$$\frac{a^2}{h^2}=\frac{4}{\phi}$$

Bildet man auf beiden Seiten der Gleichung den Kehrwert und multipliziert mit zwei, erhält man dies:

$$\frac{2h^2}{a^2}=\frac{\phi}{2}$$

Setzt man nun für $h^2$ ein, was die zweite Gleichung des obigen Beweises vorgibt, ergibt das:

$$\frac{2\left(\frac{as}{2}\right)}{a^2}=\frac{\phi}{2}$$

Nach dem Kürzen steht das Ergebnis:

$$\frac{s}{a}=\frac{\phi}{2}$$

Könnte es also sein, dass es den Ägyptern weder um die Kreiszahl π noch um die Gleichheit von Seitenfläche und dem Quadrat der Höhe, sondern in Wahrheit um den Goldenen Schnitt φ ging? Die älteste erhaltene Erwähnung dieses Verhältnisses stammt aus dem 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, ist also nur halb so alt wie die Große Pyramide.9 Ist das Grabmal der steinerne Beleg dafür, dass dieses Wissen viel älter ist?

Viele Wege führen nach Gizeh

Welchem mathematischen Geheimnis widmeten die alten Ägypter die Form der Cheops-Pyramide? Hier sind weitere Vorschläge, zu denen ich jeweils die Abweichung zu den vermuteten Pyramidenmaßen von 440 zu 280 Königsellen notiere: Das Verhältnis von Kantenlänge zur Höhe entspricht

Diese Liste ließe sich fortsetzen. Man kann scharenweise bedeutungsvolle Zahlenverhältnisse an der Cheops-Pyramide wie an jedem anderen Gebäude entdecken und dahinter beliebig weit fortgeschrittenes Wissen ihrer Erbauer vermuten. Dabei genügt eine einzige der hier vorgestellten Beziehungen, um die Form der Pyramide festzulegen. Alle anderen Annäherungen an interessante Werte ergeben sich dann als Nebenwirkung.

Test mit der Rasierklinge

Wenn man von einem Rasierklingentest bei einem aus Steinblöcken zusammengesetzten Bauwerk einer alten Hochkultur hört, denkt man womöglich an Spaltmaße: Sind die Steine so präzise gearbeitet und ausgerichtet, dass nicht einmal eine Rasierklinge dazwischen passt? Um diese Frage soll es aber nicht gehen.

Ockhams Rasiermesser ist ein Prinzip, das für die Theoriefindung empfohlen wird. Es besagt sinngemäß, dass man zur Erklärung eines Sachverhaltes nicht mehr Annahmen als nötig tätigen soll. Anders ausgedrückt: Wenn mehrere Theorien ein Phänomen gleich gut erklären, dann ist die einfachste der Theorien vorzuziehen. Benannt ist es nach Wilhelm von Ockham, einem Mönch, der im Mittelalter lebte und wirkte.

Von links: Pharao Cheops11 • Hemiunu, als „Vorsteher aller Bauarbeiten des Königs“ eventuell für den Bau der Großen Pyramide verantwortlich12 • Herodot13 • Wilhelm von Ockham14

Einfacher als die Theorie, dass in der Form der Pyramide mit dem Breite-Höhe-Verhältnis von 440 / 280 absichtlich eine bedeutungsschwangere Näherung an eine mathematische Konstante kodiert wurde, ist jene, dass man sich für das Verhältnis ohne eine nicht anderweitig belegte präzise Kenntnis der angenäherten Konstante entschieden hat. 440 / 280 Königsellen lassen sich zu 11 / 7 kürzen, ein einfaches Verhältnis natürlicher Zahlen. Es genügt zur Erklärung der Pyramidenform, dieses Verhältnis als angestrebtes Maß anzusehen. Für irgendeinen Böschungswinkel musste man sich schlicht entscheiden.

Pyramiden der Zeit

Dass die Geometrie der Pyramide völlig zufällig gewählt sei, möchte ich nicht unterstellen. Das Baumaterial, der Untergrund, Werkzeug- und Bautechnik sowie zu Verfügung stehende Arbeitskraft und Zeit haben ebenso Einfluss auf die Form wie plausible menschliche Vorgaben, etwa so hoch wie möglich oder möglichst stabil für die Ewigkeit zu bauen. In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick auf andere Pyramiden der Epoche.

Knickpyramide in Dahschur, Foto von Ivrienen auf en.wikipedia.org15

Die Zeit der großen Pyramiden mit vier glatten, dreieckigen Seitenflächen begann erst unter Pharao Snofru, Cheops’ Vorgänger. Zuvor hatte man flache Mastabas gebaut, die sich in der Folge durch mehrere „Etagen“ zu Stufenpyramiden entwickelten. Snofru werden dann drei große Pyramiden zugeordnet:16

Chephren, ein Sohn des Cheops, ließ in Gizeh die zweitgrößte Pyramide Ägyptens errichten. Sie ist etwas steiler als die Pyramide seines Vaters und wirkt auch wegen der höheren Lage auf manchen Fotos größer als die Cheops-Pyramide. Die Chephren-Pyramide weist ein Breite-Höhe-Verhältnis von annähernd 12 / 8 auf.17 Während der vierten Dynastie experimentierte man also mit verschiedenen Böschungswinkeln, sowohl flacheren wie auch steileren als bei der Cheops-Pyramide. Die Form der Cheops-Pyramide passt in ihre Zeit.


Was sich die alten Ägypter wirklich bei der Konzeption der Großen Pyramide dachten, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Einzig bislang unentdeckte zeitgenössische Aufzeichnungen könnten vielleicht verlässlichen Aufschluss geben. Die Ungewissheit schafft einen kreativen Freiraum, in welchem man in Spekulationen schwelgen und faszinierende Theorien entwickeln kann. Es wäre allerdings ein Fehler, eine Theorie aufgrund ästhetischer Reize oder aufregender Implikationen als Fakt zu betrachten, während vergleichsweise nüchterne Alternativen die Form der Großen Pyramide genauso gut erklären.


  1. David Blatner: π – Magie einer Zahl. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001. 2. Auflage, Seite 11.
  2. Liste der höchsten Gebäude ihrer Zeit, Bauwerke insgesamt nach absoluter Höhe. Wikipedia, Version vom 8. Januar 2013. Abgerufen am 8. Februar 2013.
  3. Cheops-Pyramide. Foto von Nina Aldin Thune, März 2005, CC-BY-SA-3.0.
  4. Cheops-Pyramide, Nivellierung und Einmessung. Wikipedia, Version vom 17. Januar 2013. Abgerufen am 28. Januar 2013.
  5. Papyrus Moskau 4676. Wikipedia, Version vom 1. November 2012. Abgerufen am 10. Februar 2013.
  6. Papyrus Rhind. Wikipedia, Version vom 22. Januar 2013. Abgerufen am 10. Februar 2013.
  7. Cheops-Pyramide, Herodot von Halikarnassos. Wikipedia, Version vom 17. Januar 2013. Abgerufen am 28. Januar 2013.
  8. Den Beweis habe ich einem Foren-Beitrag von mir auf www.unterbücken.de aus dem April 2006 entnommen. Die Seite ist nicht mehr online verfügbar.
  9. Goldener Schnitt, Geschichte. Wikipedia, Version vom 16. Januar 2013. Abgerufen am 11. Februar 2013.
  10. Decimal expansion of the absolute value of the abscissa of the local minimum of the Gamma function in the interval [ -2,-1]. On-Line Encyclopedia of Integer Sequences. Abgerufen am 25. Januar 2013.
  11. Cheops-Statue im Ägyptischen Museum in Kairo. Foto von Chipdawes auf en.wikipedia.org, Public Domain. Beschnitten.
  12. Hemiunu-Statue im Roemer- and Pelizaeusmuseum in Hildesheim. Foto von Einsamer Schütze auf commons.wikimedia.org, CC-BY-SA-3.0. Beschnitten.
  13. Kopf des Herodot im Metropolitan Museum of Art in New York. Foto von Marie-Lan Nguyen, CC-BY-2.5. Beschnitten.
  14. Wilhelm von Ockham in einem Kirchenfenster in Surrey. Foto von Moscarlop auf commons.wikimedia.org, CC-BY-SA-3.0. Beschnitten.
  15. Snofrus Knickpyramide. Foto von Ivrienen auf en.wikipedia.org, Oktober 2007, CC-BY-3.0. Beschnitten.
  16. Snofru, Bautätigkeit. Wikipedia, Version vom 29. Januar 2013. Abgerufen am 31. Januar 2013.
  17. Pyramide de Khéphren. Französische Wikipedia, Version vom 3. Dezember 2013. Abgerufen am 12. Februar 2013.