Der Brief

Atmen fiel Martin unheimlich schwer, als er den Schlüssel drehte. Kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn, sein Rücken war kalt und feucht.
„Hört das einmal auf?“, dachte er und zuckte zusammen als die Worte ihn tatsächlich auf dem Absatz erwischten.

Er schloss die Tür, zog seine Schuhe aus. Die Luft wirkte gräulich vernebelt. Vielleicht hing der Geruch von Zigaretten von der Decke? und legte sich schlafen im Brief auf dem dunklen runden Tisch. Selbst der kleine Blumenstrauß in seiner Mitte sah welk aus, obwohl er am Morgen noch in allen Ecken des Gartens geblüht hatte. Taugetränkt.
Martins linke Hand fuhr über den Dreitagebart während er mit rechts die handgeschriebenen Worte auf dem Papier verfolgte. Ein Abschiedsbrief. Sie wäre weder traurig noch glücklich. Sie wäre fremd in der Welt. Die Welt gäbe ihr das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Sie wisse nicht, wie sie hierher gekommen sei, doch sie spüre, dass sie nicht hierher gehöre. Sie wäre eine Exklave umzingelt von Leben. Sie würde das berichtigen, auf den Klippen von Resam. Ein Sprung nach Hause. „Es hat nichts mit dir zu tun. Ich liebe dich.“ Ich liebe dich stand grausam auf dem Blatt. Grausam, weil durchgestrichen. „Ich mag dich. Miko“.

Martin wankte, als überlegte er, ob es angebracht wäre, zusammenzubrechen. Sein Gesicht war mindestens so grau – Rrrring – wie die Luft. Seine Augen nahmen ein glasiges Aussehen – Rrrring – an, sein Blick trübte sich. Er weinte nicht, es klingelte. An der Tür und Martin fiel nicht um.
Er hielt den Brief in der Hand, als er zur Tür schritt. Er hielt den Brief in der Hand, als er öffnete. Die drei Männer standen sich einen Augenblick wortlos gegenüber, als wüssten sie nicht, wer hier daheim war und wem es gebührte sich vorzustellen. Womöglich auch so, als würden sie ihr gegenseitiges Schicksal schon kennen und sich ohne Regung, auch nicht der Lippen, verstehen. Einer der beiden Männer vor Martins Tür sagte etwas. Es dauerte Sekunden, dann nickte Martin.
„Ich bin Kommissar Hubert und das ist Herr Kowalski von der Gemeinde. Dürfen wir hineinkommen?“

Martin hielt den Brief in der Hand, als er zurück ins Wohnzimmer trottete. Kommissar Hubert schloss die Tür. Noch immer dieses Grau. Nichts hatte sich verändert, seit er die Tür geöffnet hatte, doch Martin ließ seinen Blick über die Möbel wandern, als kehre er von einer mehrmonatigen Reise zurück. Wie nach einem mitreißenden Film: der Fernseher ist aus und erstaunt stellt man fest, dass man auf der Couch in seinem Wohnzimmer sitzt.
„Ähm, Frau Miko Mihara, das ist ihre Frau?“, sagte der Kommissar.
Martin hielt den Brief in der Hand, als er nickte.
„Frau Mihara hatte einen Unfall“.
Ich weiß, hauchte Martin. Seine Stirn faltete sich leicht, als sein Blick sich auf den Brief in seiner linken Hand fixierte, zu seiner rechten wanderte und wieder zum Brief in der linken. Wie kommt nur dieser Brief in meine linke Hand, schien seine Stirn zu fragen.

Der Kommissar warf einen hilfesuchenden Blick in Richtung des Herrn von der Gemeinde, sagte dann aber selbst: „Ein Strohballen fiel von einem Traktorhänger. Ähm, zwischen Zubeck und Resam. Ihre Frau fuhr mit dem Fahrrad direkt dahinter. Es tut mir leid, diese Strohballen müssen Sie wissen, man stellt sich nicht vor wie schwer die sind. Auf abschüssiger Straße rollen die immer weiter und sogar den Gegenhang ein gutes Stück rauf, da kann man gar nicht …“, der Kommissar brach abrupt ab, als sich die Hand des Herrn von der Gemeinde auf seine Schulter legte.


Diese Geschichte schrieb ich am 20. August 2005.