Zebra
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Kennen Sie Netzki? Netzki malte Zebras. Gestreifte Pferde. Tiere, die ihr Gefängnis immer mit sich tragen wie eine Schnecke ihr Haus. Eingesperrt in ihrem eigenen Fell stehen sie in der wunderbaren Weite der Landschaft und wissen nicht, was sie mit ihr anfangen sollen. So viel Platz und nichts, was sie damit machen, außer von einem trockenen Steppengrasbüschel zum anderen zu ziehen, von einem krokodilverseuchten Wasserloch zum nächsten. Zebras können nicht aus ihrer Haut fahren, ihre Flügel ausbreiten und einfach davonflattern wie ein Schmetterling. Nicht, dass es eine Mauer gäbe irgendwo, die alle Zebras aufhielte. Sie dürfen jederzeit losmarschieren: Einmal den Ozean sehen! Immer nach Osten gehen bis an das Ende der Welt. Doch sie können nicht wollen. Weil sie gefangen sind in sich selbst. Ein Zebra ist ein Zebra und ein Zebra entscheidet sich nicht einfach mal so, immer nach Osten zu gehen bis an das Ende der Welt.
Für Netzki waren Zebras ein Sinnbild des modernen Menschen. Frei sollte er sein, der moderne Mensch. Überall hin gehen können. Doch ein Mensch ist ein Mensch und ein Mensch entscheidet sich nicht einfach mal so, immer nach Osten zu marschieren bis an das Ende der Welt. Ein Mensch bleibt wo er ist und kaut an seinen Grasbüscheln. Ein erfolgreicher Mann, von der Natur nicht mit einem so edlen Häftlingskleid bedacht wie Netzkis Lieblingsmotiv, baut sogar selbst an seinem Gefängnis. Er pflanzt ein Haus und zieht einen Zaun darum, am liebsten aus senkrecht montierten Latten. Stahlstreben: nicht minder beliebt. Sich selbst kleidet der Herr in Nadelstreifenanzüge, die Dame in ein von senkrechten Kanten gezeichnetes Kleid. Soll das Ausbrechen ihrer Figur verhindern.
Fast sein ganzes Künstlerleben lang malte Netzki Zebras. Eine riesige Herde Zebras. Viele Generationen. Und malte dabei mit denselben Pinselstrichen ein Abbild der Gesellschaft, gefesselt in ihren eigenen konservativen Erwartungen. Die meisten Gemälde Netzkis besitzen keinen Titel, sondern nur eine Nummer. Zebra 278. Oder Zebra 279. 280, …81, …82, …83, und …84 folgen. Wenige seiner Bilder tragen berühmte Namen. Das 286te Zebra wurde als „Marylin Monroe“ auf Leinwand gebannt. Das traurigste Zebra, dass jemals gemalt wurde, soll Netzki einmal gesagt haben. In 1500 Teile zerbröselt liegt es vor mir. Ich werde es auch in dieser Nacht nicht vollenden.
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Zwar bin ich freiwillig hier und kann theoretisch jederzeit gehen, doch wäre ich nicht freiwillig hier, würde ich zu meiner eigenen Sicherheit auf richterlichen Beschluss hin eingewiesen. Das hat man mir unmissverständlich klar gemacht. Dennoch kommt es mir vor, als gehöre ich hier nicht hin.
Bevor ich in die Klinik kam, beschlich mich häufig der Gedanke, ich sei krank. Das durfte eigentlich nicht sein, fand ich. Anderen ginge es viel schlechter, auch sie kämen klar. Außerdem fühlte ich mich normal. Nur darf man sich von diesem Gefühl nicht täuschen lassen. Es ist ein natürliches Gefühl auch für schräge Typen, denn jeder weiß lediglich, wie es ist, er selbst zu sein. Aus eigener Erfahrung kennt keiner einen anderen Alltag. Man selbst zu sein, ist für jeden Menschen normal. Gegebenenfalls sind alle anderen krank. Manchmal denke ich genau das, dass die eigentlichen Kranken jene sind, die dort draußen herumwuseln – die anderen Patienten, die Ärzte, die Schwestern und Pfleger sowieso. Allerdings vermute ich, dass viele von ihnen dasselbe denken, nur über sich nicht, und einige bestimmt auch, dass viele von ihnen dasselbe denken, nur über sich nicht. Das ist normal, oder?
Jedenfalls brach immer wieder diese Idee in mein Bewusstsein, etwas mit mir stimme nicht. Zwingend. Denn wenn mit mir wirklich etwas nicht stimmte, waren meine Zweifel sowieso berechtigt. Wäre mit mir hingegen alles in Ordnung, wäre es doch irre, ständig von dem Gedanken genervt zu werden, ich sei krank! Nein, gesunde Menschen denken nicht ständig, sie seien krank. Folglich konnte ich keinesfalls gesund sein. Zum Arzt ging ich damals trotzdem noch nicht.
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Puzzleteile zusammenzusetzen ist eine von zwei Beschäftigungen, die mich hier wach durch die Nacht bringen können. Es gibt auch Bücher, doch für diese bin ich zu schwach. Das Umblättern der Seiten reicht nicht, um einen übermüdeten Menschen wach zu halten. Fallen mir die Augen zu, muss ich ins Bett. Das Bett steht in einem Zweibettzimmer. Im anderen Bett liegt ein Mann und atmet. Seinen Atemgeräuschen zu lauschen ist die zweite Beschäftigung, die mich wach durch die Nacht bringt. Eine Qual. Lieber puzzle ich.
Am einfachsten ist es, wenn man an den Ecken beginnend als Nächstes den Rand zusammenfügt. Ein 1500-Teile-Puzzle hat typischerweise 156 Randteile. Man erkennt sie leicht: Die vier Ecken besitzen jeweils zwei gerade Kanten, die anderen 152 Randteile weisen genau eine gerade Kante auf. Alle sonstigen Teile zeigen überall Nasen oder Taschen. Einen Anfang unter 156 Teilen zu finden ist viel einfacher, als einen Anfang aus 1500 Teilen zu finden, was die Randstrategie so praktisch macht. Das Zusammensetzen des Randes kann man als ein eindimensionales, ringförmiges 156-Teile-Puzzle betrachten. Ein Kinderspiel. Eigentlich ein Betrug an sich selbst. Man kauft ein 1500-Teile-Puzzle, um eine Herausforderung zu haben, und puzzelt dann wie ein kleines Kind. Als kleines Kind hatte mich das Können der Großen noch beeindruckt. Ich wusste nicht, dass sie eigentlich dasselbe machen, wie ich schon damals. So ist das Leben. Das ganze Leben.
Na ja, was soll's? Weder habe ich das Zebra-Puzzle Marylin Monroe gekauft, noch soll es eine Herausforderung sein. Es soll mich nur wach halten, damit ich nicht einschlafe und ins Bett muss, wo ich nicht schlafen kann. Ich werde es bis zum Morgengrauen nicht schaffen. Dann käme sowieso irgend ein Irrer und würde die Teile durch den Raum schmeißen. Muss nicht sein. Vor allem fehlten Teile, würden nicht alle gleich wiedergefunden, ehe der Staubsauger der Reinigungskräfte sie später aufspürt und frisst. Ein 1500-Teile-Puzzle mit 1400 und ein paar Teilen ließe sich an Armseligkeit kaum überbieten. Freilich würde es mir nicht auffallen, solange noch alle Randstücken beisammen blieben. Ich sortiere sie aus. Es sind 156. Bald wird die Nachtschwester kommen und mir eine Beruhigungstablette anbieten. Wie immer werde ich dankend ablehnen.
„Zebra“ ist ein überarbeiteter Teil meines für NaNoWriMo 2009 verfassten Textes. Das Ziel des Wettbewerbs, innerhalb eines Monats einen Roman von mindestens 50.000 Wörtern zu verfassen, verfehlte ich meilenweit. Dessen ungeachtet konnte ich aus der Veranstaltung Lehrreiches mitnehmen.