An Havel und Elbe
Am neunten September machten Migo und ich uns auf den Weg von Havelberg in die alte Pilgerstadt Wilsnack. Wir wanderten nicht die kürzeste Route, sondern lenkten unsere Füße über 36,4 Kilometer mit Umweg durchs Europäische Storchendorf Rühstädt an Havel, Elbe und Karthane entlang.
Havelberg
Das beschädigte Relief über dem Türsturz des Eingangs zum Prignitz-Museum im Domstift zeigt, wenn ich nicht irre, ein Motiv aus der Weihnachtsgeschichte. Maria sitzt mittig unter dem Stern von Bethlehem und hält das Jesuskind. Links abgebildet sind Könige, die anscheinend Geschenke darbringen und huldigen.
Das Sandsteinrelief über dem Eingang zur ehemaligen Hospitalkapelle St. Spiritus stellt hingegen die Geißelung und Kreuzigung Christi dar. In dem Gebäude findet sich heute eine Informationsstelle zum Biosphärenreservat Mittelelbe, Teil des länderübergreifenden UNESCO-Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe.
Migos Bad unter der Sandauer Brücke in Havelberg bereits zu Beginn unserer Wanderung hatte ich im Voraus geplant. Dieser Tag wäre für einen langen Ausflug seiner Bärigkeit nämlich zu sommerlich gewesen, hätten wir keinen regelmäßigen Zugang zu kühlendem Wasser gehabt. Die verdunstende Nässe im Fell machte das Wetter auch für Migo erträglich.
Die Schleuse Havelberg überraschte mich. Die Schleusentore schienen „falsch herum“ eingebaut zu sein. Fahren Schiffe flussaufwärts, werden sie in Schleusen im Regelfall gehoben. Anders in Havelberg: fährt ein Schiff von der Elbe flussaufwärts in ihren Nebenfluss Havel ein, wird es auf ein niedrigeres Niveau hinabgeschleust …
Inseln zwischen Havel und Elbe
Der Havelberger Schleusenkanal verwandelt eine langgestreckte Landzunge zwischen Elbe und Havel in eine Insel, auf der Migo und ich nach Norden wanderten. Flaches Land, mit einer einzigen kleinen Siedlung: Neuwerben. Jenseits der Havel ragen die Kirchtürme von Toppel und Nitzow, jenseits des Elbdeichs in der Ferne der Kirchturm der altmärkischen Stadt Werben auf.
Um wieder aufs Festland zu kommen, überquerten wir drei Brücken an drei Wehren: das Wehr Neuwerben und die Wehrgruppe Quitzöbel mit Altarm- und Durchstichwehr. Um zu verstehen, was es mit all diesen Wehren auf sich hat, und Licht ins Dunkel des Schleusenrätsels zu bringen, wirft man am besten zunächst einen Blick auf eine Karte.
Was man auf der Karte nicht sieht: Die Elbe weist ein größeres Gefälle als die Havel auf. Während Havel und Elbe an der Havelmündung bei Gnevsdorf auf einem Niveau liegen, liegt die Havel im Bereich Havelbergs niedriger als die Elbe. So kommt es, dass ein Schiff, dass von der Elbe „flussaufwärts“ in die Havel einfährt, in der Havelberger Schleuse ① hinabgeschleust wird.
Auch am Wehr Neuwerben ② liegt die Elbe noch höher als die Havel. Das Wehr kann bei extremem Elbhochwasser wie im Jahr 2002 geöffnet werden, um die Scheitelwelle durch kontrolliertes Ableiten in die Havelniederung zu kappen und somit weiter elbabwärts gelegene Orte zu schützen. Die Quitzöbeler Wehre ③/④ sind dann geschlossen, sodass kein Havel- und eingeleitetes Elbwasser zurück in die Elbe drücken kann.
Das Verlegen der Havelmündung um sieben Kilometer von ihrem alten Platz ⑤ nach Gnevsdorf diente allerdings nicht der Flutung der Havelniederung, sondern im Gegenteil dem Schutz von Siedlungen und landwirtschaftlichen Flächen havelaufwärts. Hochwassergefahr an der unteren Havel geht von ihrem Rückstau schon bei weniger extremem Elbhochwasser aus.
Die Verlegung der Mündung elbabwärts senkte die Rückstauhöhe im zuvor betroffenen Gebiet und ermöglicht ein schnelleres Abfließen nach der Flut. Neben dem Hochwasserschutz erlauben die beiden Quitzöbeler Wehre und das Wehr Gnevsdorf ⑥ auch ein Halten des Wasserstandes bei Niedrigwasser in Havel und Gnevsdorfer Vorfluter, wie der letzte Abschnitt der Havel genannt wird.
Kurioser mag die Möglichkeit erscheinen, mit den Wehranlagen eine Schwallwelle in der Elbe zu erzeugen, um ein dort bei Niedrigwasser festgefahrenes Schiff anzuheben. All diesen Vorteilen stehen jedoch auch Nachteile gegenüber: Das Ökosystem an der unteren Havel hat sich aufgrund von Flussbegradigungen und Wasserstandsregulierung zum Nachteil der an diesen Lebensraum angepassten Arten verändert.
Quitzöbel und Lennewitz
Die erste Rast des Tages legten Migo und ich kurz hinter dem Quitzöbler Durchstichwehr ein. Danach ging es am Bauerbrack vorbei – für Migo auch hindurch – Richtung Quitzöbel ins Hinterland des Havelstroms. Im Osten Quitzöbels findet sich ein erst vereinzelt überwaldetes Binnendünengebiet. Flechten gehören zu den Eroberern dieses trockenen Lebensraums.
Die beiden Höfe links und rechts der Straße nach Lennewitz, die den „Ausbau Mühle“ bilden, liegen noch in der Gemarkung Quitzöbel. Die dortige Bushaltestelle trägt jedoch schon den Namen Lennewitz II. Der Fahrplan mit einem einzigen Halt pro Tag, aber nur an Werktagen, hat etwas Einzigartiges. Fairerweise ist zu ergänzen, dass die Haltestelle auf der anderen Straßenseite öfter angefahren wird.
In der Lennewitzer Kirche meinte ich die Handschrift des Architekten der Kirche in Helle wiederzuerkennen, die Migo und ich bei unserer Winterwanderung an Dömnitz und Stepenitz passiert hatten. Mein Gefühl täuschte nicht: Tatsächlich entwarf Georg Büttner beide Sakralbauwerke.
Abbendorf bis Rühstädt
Am Gnevsdorfer Vorfluter zwischen Abbendorf und Gnevsdorf pausierten wir ein zweites Mal an diesem Tag und labten uns am Käsebrot; siehe Migo bei der Mundhygiene. Während des Wanderns dienten Minibirnen und Äpfel der Erfrischung, die sich an Bäumen am Rand der Wege Schleuse Havelberg–Neuwerben und Lennewitz–Abbendorf darboten.
In die Gnevsdorfer Kapelle konnte ich dank einer freundlichen Dame hineinschauen. Sie erzählte, die Taufkapelle habe einst die Gattin des Rühstädter Gutsherren gestiftet, nachdem ein neugeborenes Kind im kalten Winter als Folge des Weges zur Taufe in Rühstädt gestorben sei. Die Kapelle aus dem 17. Jahrhundert wurde in der Nachwendezeit komplett restauriert.
Die zahlreichen Storchennester in Rühstädt waren bei unserer Ankunft bereits verlassen. In der zweiten Augusthälfte hatten sich die Störche auf den Weg in Richtung Winterquartier gemacht. Rühstädt gilt als storchenreichster Ort Deutschlands. 1996 erhielt es den Titel „Europäisches Storchendorf“.
Storchendorf Rühstädt und Groß Lüben
Da hatte ich einmal in meinem Leben den beschwerlichen Weg nach Groß Lüben unternommen – gut dreißig Kilometer Wanderung nagten bereits an den Füßen – und just zu dieser Zeit mussten Bauarbeiter die Kirche mit einem Baugerüst verschandeln, sodass ich kein Postkartenfoto machen konnte: „Das Leben ist grausam“, könnte man sagen. Doch Schluss mit diesem törichten Unfug!
Nicht nur verspricht die Neuerrichtung der 1984 verlorenen Kirchturmspitze einen Gewinn für Groß Lüben. Nicht nur hält mich niemand davon ab, nach Fertigstellung Groß Lüben erneut anzusteuern – zum zweiten Mal in unserem Leben besuchten Migo und ich Groß Lüben übrigens schon eine Woche später.
Nein, ich freute mich tatsächlich, einen Schnappschuss dieses besonderen Moments in der Geschichte des Bauwerks aufnehmen zu können. Abbildungen der Cheops-Pyramiden gibt es zahllose, aber was würden Historiker für ein einziges von ihrem Bau geben? Bis heute sind sich Archäologen nicht sicher, wie das „Gerüst“ der alten Ägypter aussah. Ein Schicksal, dass ihnen in Groß Lüben erspart bleibt.
Ohne Gerüst mit aufrechtem Turm wird die Kirche nun, so ist zu wünschen, viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte stehen: ein ansehnlicher Blick- und Blitzfang, jedoch ein gewöhnliches Motiv. Am Rande sei vermerkt, dass der Turm, noch in zwei Teilen nebeneinanderstehend, besser ins Bildformat passt.
Bad Wilsnack
Bei den milchweißen Gebäuden im Hintergrund der auf sattem Grünland weidenden Rinder dachte ich unwillkürlich an eine Meierei. Ob dort wirklich Milchprodukte hergestellt werden, schreibe ich bald im Bericht zu unserer nächsten Wanderung, die Migo und mich direkt daran vorbeiführen sollte.
An einer Giebelseite des Bad Wilsnacker Bahnhofsgebäudes findet sich der historische Bilderbogen, in dem die Wunderbluthostien eine prominente Rolle spielen. Ihr Fund wandelte Wilsnack im Mittelalter zu einem weit bekannten Pilgerziel; mit ihrer Zerstörung im 16. Jahrhundert verlor die Stadt die überregionale Bedeutung wieder.
An der den Gleisen zugewandten Längsseite des Bahnhofsgebäudes sind Darstellungen aus der jüngeren Geschichte und zu Wilsnacks Status als Thermalsolebad angebracht. Den Zusatz „Bad“ trägt Wilsnack aber schon seit 1929, lange bevor nach Thermalwasser gebohrt wurde. Als Kurort qualifizierten die kleine Stadt insbesondere die heilsame Moorerde und klare Luft.
Von Wilsnack zurück reisten wir mit dem RE 2 zunächst nach Wittenberge. Ab Dezember 2012 wird diese Verbindung nicht mehr durch die Deutsche Bahn AG, sondern durch die Ostdeutsche Eisenbahn GmbH betrieben. Die fotografierte Lok der Baureihe 182 weist übrigens eine nette Eigenart auf: Beim Anfahren „spielt“ sie eine Tonleiter.
- Karte mit Hilfe von OpenStreetMap-Daten, veröffentlicht von OpenStreetMap-Mitwirkenden unter der Open Data Commons Open Database License, von Martin Janecke erstellt, Weiterverwendung unter Beachtung der Creative-Commons-Lizenz BY-SA gestattet.
- Auf der Karte sind der Funktion entsprechend Altarm- ③ und Durchstichwehr Quitzöbel ④ beieinander dargestellt. Tatsächlich liegen Wehr Neuwerben ② und Altarmwehr Quitzöbel direkt benachbart; das Durchstichwehr Quitzöbel ist etwas abgesetzt.