Sexuelle Präferenz in einer oder zwei Dimensionen

In Sexual Behavior in the Human Male gaben Alfred Kinsey und Kollegen 1948 einen breiten, auf Befragungsdaten basierenden Einblick in das Sexualverhalten des Mannes in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dieser erste Kinsey-Report widerlegte die Vorstellung, man könne alle Männer ihrer sexuellen Orientierung oder Praxis nach als entweder heterosexuell oder homosexuell einstufen.1

Die Wissenschaftler stellten fest, dass sich bei vielen Männern Neigungen zu beiden Geschlechtern verschieden gewichtet finden. Dazu entwickelten die Autoren eine Skala, die heute oft Kinsey-Skala genannt wird. Im Prinzip bildet die Skala ein Kontinuum ab, ist aber aus praktischen Gründen der statistischen Erfassung in 7 + 1 Klassen unterteilt.

Auf der Kinsey-Skala fallen ausschließlich heterosexuelle Menschen in die Klasse 0, ausschließlich homosexuelle Menschen in die Klasse 6. Menschen in den Klassen 1 bis 5 haben verschieden stark ausgeprägte hetero- und homosexuelle Neigungen und/oder Erfahrungen.
Abbildung 1: Kinsey-Skala 0–7 und Kategorie X für asexuell2

Michael Storms wählte Ende der 1970er Jahre statt des eindimensionalen Kontinuums von Hetero- bis Homosexualität nach Kinsey ein zweidimensionales Diagramm, welches sowohl eine heteroerotische als auch eine dazu orthogonale homoerotische Achse aufweist, um sexuelle Fantasien zu erfassen.

Als einen Vorteil des zweidimensionalen Ansatzes nennt Storms, dass sich darin ein Platz für Asexuelle findet. Zweitens erscheint darin Bisexualität nicht als Mittelweg, quasi als Kompromiss zwischen Homo- und Heterosexualität mit einem mäßigem Interesse an beidem, sondern als eigener Quadrant mit hoher Attraktivität sowohl von hetero- als auch homoerotischen Fantasien.3

Ein Koordinatensystem hat vier Quadranten, gebildet durch die Achsen „heteroerotische Fantasie“ von links nach rechts und „homoerotische Fantasie“ von unten nach oben. Die Quadranten sind wie folgt beschriftet: rechts unten „heterosexuell“, rechts oben „bisexuell“, links oben „homosexuell“, links unten „asexuell“.
Abbildung 2: Kategorisierung frei nach Storms

Was ist wahr – sind Hetero- und Homosexualität zwei Extreme derselben Dimension wie bei Kinsey oder zwei voneinander unabhängige Dimensionen wie bei Storms? Die Frage suggeriert einen Gegensatz, der nur scheinbar existiert. Tatsächlich sind beide Modelle miteinander kompatibel. Würde man bei Kinsey als zweite Dimension eine Skala für die Libido ergänzen, wären beide Systeme quasi äquivalent!

Ich werde am Beispiel der Rollenverteilung beim Geschlechtsverkehr zwischen Männern zeigen, wie Neigungen in zwei voneinander verschiedenen Dimensionen in eine eindimensionale Präferenz sowie eine von der Präferenz unabhängige Intensität umgeformt werden können – und umgekehrt. Wir benötigen dafür nur die Grundrechenarten oder einfache Werkzeuge der Geometrie.

Begriffe: Bottom, Top und Vers.

Bottom, Top und Versatile sind keine exotischen Elementarteilchen, sondern Rollen beim penetrativen Sex zwischen Männern. Wenn Frau und Mann miteinander Geschlechtsverkehr haben, wird typischerweise der Penis des Mannes in die Frau eingeführt. Bei zwei Männern ist nicht selbstverständlich, wer wen penetriert. Daher gibt es Bezeichnungen, um die möglichen Rollen beim Sex zu benennen.

Mit dem englischen Wort Bottom wird der penetrierte Partner bezeichnet. Obschon das Wort übersetzt unten heißt, muss der Bottom sich beim Geschlechtsverkehr nicht tatsächlich unter seinem Partner befinden. Der penetrierende Partner wird Top genannt, englisch für oben.

Manche Männer bevorzugen überwiegend oder ausschließlich eine der beiden Rollen und identifizieren sich dann allgemein als Top beziehungsweise Bottom. Als Vers., Versatile oder flexibel kann sich jemand einordnen, der sowohl die eine als auch die andere Rolle einnimmt.

Top und Bottom als unabhängige Dimensionen

Das Bedürfnis eines Mannes, in die Rolle des Bottoms zu schlüpfen, erfassen wir in einer Variablen $b$. Quantifizieren lässt sich das Bedürfnis als Frequenz, beispielsweise als einmal (Geschlechtsverkehr) pro Woche. Das wären zirka 1.65 Mikrohertz, wenn man es physikalischer ausdrücken möchte. Das Bedürfnis, die Rolle des Tops auszuüben, lässt sich ebenso als Frequenz in einer Variablen $t$ erfassen.

Zusammen kann man die homosexuellen Bedürfnisse eines Mannes dann als Punkt $P=(b,t)$ in ein Koordinatensystem mit einer b-Achse für die Bottom-Neigung und einer t-Achse für die Top-Neigung einzeichnen.

Abbildung 3: Im Diagramm markiert $P$ ein geringes Bedürfnis, die Rolle des Bottoms einzunehmen, und ein mittleres Bedürfnis, als Top zu agieren.

Wie sähe ein passender Partner allein unter diesem Gesichtspunkt aus? Idealerweise würde ein Mann genauso gern die Rolle des Bottoms einnehmen, wie sein Partner Top sein möchte, und umgekehrt. Wenn wir zu $P$ den idealen Partner als $P^\prime=(b^\prime,t^\prime)$ schreiben, ist also

$$\begin{aligned} b^\prime &= t\\ t^\prime &= b \end{aligned}$$

Im Koordinatensystem können wir den idealen Partner auch geometrisch ermitteln. Man findet ihn, wenn man die Bedürfnisse eines Mannes $P$ an der aufsteigenden Diagonale durch den Ursprung spiegelt.

Abbildung 4: Bedürfnisse eines Mannes $P$ und seines idealen Partners $P^\prime$

Eine Dimension von Bottom bis Top

Im vorigen Kapitel beschrieben wir die Bedürfnisse, als Top oder Bottom zu fungieren, als Frequenzen in zwei getrennten Dimensionen. Doch wir können die Rollenpräferenz auch in einer einzigen Dimension erfassen.

Zunächst aber bezeichnen wir das Bedürfnis, unabhängig von der dabei eingenommenen Rolle mit einem anderen Mann Geschlechtsverkehr zu haben, als $s$. Auch dieses Sexualbedürfnis ist eine Frequenz und nichts anderes als die Summe der Bedürfnisse, die Rolle des Bottoms oder des Tops auszuleben:

$$s = b+t$$

Vorausgesetzt, dass überhaupt ein Bedürfnis nach Geschlechtsverkehr mit einem anderen Mann besteht, also $s>0$ ist, erfassen wir die Rollenpräferenz in einer Zahl $r$ aus dem Intervall $[0,1]$. Der Wert $0$ soll dabei einen totalen Bottom, der Wert $1$ einen totalen Top kennzeichnen. Rechnerisch können wir $r$ als Verhältnis der Bedürfnisse, als Top zu fungieren und überhaupt Sex mit einem Mann zu haben, ermitteln:

$$r = \frac{t}{s}$$

Grafisch lässt sich die Rollenpräferenz auf einer Strecke markieren.

Eine Strecke repräsentiert das Intervall von 0 bis 1, Bottom bis Top. Eine mit r bezeichnete Stelle dazwischen symbolisiert die Präferenz eines Mannes für die beim homosexuellen Sex eingenommene Rolle.
Abbildung 5: Bevorzugung der Top-Rolle, dargestellt in einer Dimension

Nehmen wir als zweite Dimension das Bedürfnis nach homosexuellem Geschlechtsverkehr hinzu, können wir beide Werte für einen Mann als Punkt $P=(r,s)$ in ein Koordinatensystem mit einer r- und einer s-Achse einzeichnen.

Abbildung 6: Im Diagramm markiert $P$ eine starke Präferenz für die Rolle als Top sowie ein mittleres bis hohes Bedürfnis nach Sex.

Auch hier können wir nach dem passenden Partner $P^\prime=(r^\prime,s^\prime)$ fragen. Der ideale Partner hat ein genauso großes Bedürfnis nach Sex, aber eine komplementäre Rollenpräferenz. Gleich und gleich gesellt sich gern und Gegensätze ziehen sich an – beide Sprichworte sind berechtigt. Mathematisch drückt sich das so aus:

$$\begin{aligned} s^\prime &= s\\ r^\prime &= 1-r \end{aligned}$$

Geometrisch ermittelt man in diesem Koordinatensystem zu einem Mann mit dem Punkt $P$ den idealen Partner $P^\prime$, indem man $P$ an der Geraden $r=\frac{1}{2}$ spiegelt.

Abbildung 7: Rollenpräferenz und Sexualbedürfnis eines Mannes $P$ sowie seines idealen Partners $P^\prime$

Systemwandel

Das b-t-System mit Top und Bottom als unabhängige Dimensionen ist äquivalent zum r-s-System mit Top und Bottom als Extreme derselben Dimension. Das zeigen wir mathematisch, indem wir die Koordinaten des einen Systems in die des jeweils anderen transformieren.

Wie wir $s$ aus $b$ und $t$ errechnen, sahen wir bereits oben:

$$s = b+t$$
(G1)

Ersetzen wir dementsprechend $s$ in der obigen Formel zur Berechnung von $r$, erhalten wir auch $r$ in Abhängigkeit von $b$ und $t$. Beachte: Eine Rollenpräferenz $r$ ist nur definiert, wenn es ein Sexualbedürfnis gibt, das heißt $s>0$ ist.

$$r = \frac{t}{b+t}$$
(G2)

Umgekehrt können wir $t$ aus $s$ und $r$ errechnen,

$$t = sr$$
(G3)

und $b$ ebenfalls:

$$b = s(1-r)$$
(G4)

Um uns zu überzeugen, dass die Transformation so korrekt ist, können wir die Formeln zur Umwandlung in die eine Richtung in die Formeln zur Umwandlung in die andere Richtung einsetzen. Dies entspricht einem Hin- und Herübersetzen. Beginnen wir mit Gleichung 3 und ersetzen darin $s$ und $r$ gemäß Gleichung 1 und Gleichung 2. Dann kürzen wir:

$$t = sr = (b+t)\left(\frac{t}{b+t}\right) = t$$

Genauso können wir mit Gleichung 4 verfahren:

$$b = s(1-r) = (b+t)\left(1-\left(\frac{t}{b+t}\right)\right) = (b+t) - t = b$$

Auf der rechten Seite kommt nach dem Hin- und Herübersetzen jeweils heraus, womit links begonnen wurde. Die Formeln sind also konsistent. Doch nicht nur rechnerisch kann man das eine System in das andere übertragen.

Wir finden auch auf geometrischem Weg im b-t-Diagramm zu einem Punkt $P$ alles Nötige, um ein r-s-Diagramm mit seinem Pendant zu konstruieren. Dafür zeichnet man durch $P$ eine abfallende Gerade, welche die Achsen im 45°-Winkel schneidet.

Abbildung 8: Ins Koordinatensystem mit unabhängigen Achsen für die Bedürfnisse, die Bottom- beziehungsweise Top-Rolle einzunehmen, ist rot eine Strecke eingezeichnet, auf welcher die Rollenpräferenz in einer einzigen Dimension eingefangen wird.

Den Wert von $s$ kann man dann nach Belieben auf der b- oder t-Achse ablesen, wo die abfallende Gerade die Achse schneidet. Bezeichnet man auf der abfallenden Gerade den Schnittpunkt mit der b-Achse mit $0$ und den Schnittpunkt mit der t-Achse mit $1$, entspricht die so abgesteckte Strecke jener aus Abbildung 5 und der Punkt $P$ markiert darauf den zugehörigen $r$-Wert.

Die Frage, wie man ebenso $b$ und $t$ in einem r-s-Diagramm mit geometrischen Mitteln finden kann, können ambitionierte Leser sich als Herausforderung vornehmen. 🙂


  1. Males do not represent two discrete populations, heterosexual and homosexual. The world is not to be divided into sheep and goats. Not all things are black nor all things white. It is a fundamental of taxonomy that nature rarely deals with discrete categories. Only the human mind invents categories and tries to force facts into separated pigeon-holes. The living world is a continuum in each and every one of its aspects. The sooner we learn this concerning human sexual behavior the sooner we shall reach a sound understanding of the realities of sex. – Alfred C. Kinsey, Wardell B. Pomeroy, Clyde E. Martin: Sexual Behaviour in the Human Male. W. B. Saunders Company, Philadelphia and London, 1949. Seite 639. (Digitalisat)
  2. Grafik der Kinsey-Skala basierend auf https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kinsey-Scale_de.svg, Stand 25. September 2008, bearbeitet von Martin Janecke. Gemeinfrei.
  3. Michael D. Storms: Sexual Orientation and Self-Perception. In: Patricia Pliner, Kirk R. Blankstein, Irwin M. Spigel (Hrsg.): Perception of Emotion in Self and Others. Springer, Boston, 1979. Seiten 172ff. (Digitalisat)