Wie ein Quadrat auf ein anderes zeigt

Nimm zwei unterschiedlich große Quadrate – zum Beispiel aus Papier, dann kannst du sie hin und her schieben. Lege die Quadrate auf einer Ebene so aus, dass jede Ecke des großen Quadrates in einer geraden Linie mit einer Kante des kleinen Quadrats liegt. – Das war die Herausforderung.

Abbildung 1: In diesem Bild liegen die unteren Ecken des großen Quadrats in einer geraden Linie mit der unteren Kante des kleinen Quadrats. Doch auf die oberen Ecken des großen zeigt keine Kante des kleinen Quadrats. Daher ist das keine Lösung.

Die Aufgabe lässt sich immer lösen, egal wie groß die beiden Quadrate sind. Auf dieser Seite zeige ich zwei Lösungen und eine Reihe von Berechnungen zu der meiner Meinung nach interessanteren von beiden.

Lösungen

Eine erste Lösung erhält man, wenn man das kleine Quadrat in einen der rechten Winkel am Schnittpunkt der Diagonalen des großen Quadrats einpasst.

Abbildung 2: Eine Ecke des kleinen Quadrats liegt exakt in der Mitte des großen Quadrats. Zwei Kanten des kleinen Quadrats liegen auf den Diagonalen des großen.

Bei dieser ersten Lösung liegen je zwei Ecken des großen Quadrats – die Endpunkte einer Diagonale – in gerader Linie mit einer Kante des kleinen Quadrats. Zwei Kanten des kleinen Quadrats zeigen auf keine Ecke des großen Quadrats, es sei denn, das große Quadrat hat die doppelte Fläche des kleinen.

Für die zweite Lösung legt man das kleine Quadrat mittig in das große Quadrat und verdreht die Quadrate um die gemeinsame Mitte so lange gegeneinander, bis eine Kante des kleinen Quadrats auf eine Ecke des großen zeigt. Wegen der Rotationssymmetrie von Quadraten zeigen dann auch alle anderen Kanten des kleinen jeweils auf eine andere Ecke des großen Quadrats.

Abbildung 3: Kleines und großes Quadrat sind gegeneinander verdreht, aber ihre Mittelpunkte liegen aufeinander.

Diese zweite Lösung gefällt mir besser, eben weil nicht nur jede Ecke des großen Quadrats in gerader Linie mit einer Kante des kleinen liegt, wie es die Aufgabe fordert, sondern umgekehrt auch jede Kante des kleinen Quadrats auf eine Ecke des großen zeigt.

Wie kommt man auf diese Lösungen?

Viele Wege führen zur Lösung. Einer ist zunächst die Kanten des kleinen Quadrats wie in Abbildung 4 geradlinig zu verlängern. Auf diesem Hintergrund kann man dann das große Quadrat hin und her schieben, bis all seine Ecken auf den Geraden zu liegen kommen.

Abbildung 4: Das kleine Quadrat spannt sich zwischen den Schnittpunkten zweier rechtwinklig zueinander verlaufenden Parallelenpaare gleichen Abstandes auf. Beide Lösungen für die Lage des großen Quadrats sind eingezeichnet.

Drehwinkel der zweiten Lösung

Bei der zweiten Lösungen müssen wir die Quadrate um den gemeinsamen Mittelpunkt gegeneinander verdrehen. Aber um welchen Winkel? Das berechnen wir nun. Nennen wir dafür die Seitenlänge des großen Quadrats a, die des kleinen Quadrats b und den gesuchten Winkel ω. Die Verbindung einer Ecke des großen mit der benachbarten Ecke des kleinen Quadrats soll v heißen.

Ein Quadrat mit Seitenlänge a enthält ein Quadrat mit Seitenlänge b. Sie haben den gleichen Mittelpunkt, aber das innere Quadrat ist um den Winkel ω gegenüber dem äußeren gedreht, sodass die Kanten des inneren auf die Ecken des äußeren Quadrats zeigen. Der Abstand zwischen einer Ecke des einen Quadrats zur nächsten Ecke des anderen Quadrats heißt v.
Abbildung 5: Die Fläche innerhalb des großen, aber außerhalb des kleinen Quadrats setzt sich aus vier rechtwinkligen Dreiecken zusammen, die alle auch den Drehwinkel ω als Innenwinkel haben.

Im rechtwinkligen Dreieck der Abbildung 5 gilt per Definition des Sinus, Gegenkathete durch Hypothenuse:

$$\sin(\omega)=\frac{v}{a}$$
(1)

Außerdem ist der Kosinus das Längenverhältnis von Ankathete zur Hypothenuse:

$$\cos(\omega)=\frac{v+b}{a}$$
(2)

Wir ziehen jeweils die linken und rechten Seiten der Gleichung (1) von jenen der Gleichung (2) ab:

$$\cos(\omega)-\sin(\omega)=\frac{v+b}{a}-\frac{v}{a}$$
(3)

Dann bleibt, wenn man die rechte Seite ausrechnet:

$$\cos(\omega)-\sin(\omega)=\frac{b}{a}$$
(4)

Das Seitenverhältnis von b zu a auf der rechten Seite verdient einen eigenen Namen, t:

$$t:=\frac{b}{a}$$
(5)

Weil b definitionsgemäß kleiner als a und als Seitenlänge positiv ist, liegt t immer zwischen 0 und 1. Die Gleichungen (5) und (4) verschmelzen wir:

$$t=\cos(\omega)-\sin(\omega)$$
(6)

Damit können wir zu jedem gegebenen Drehwinkel ω ausrechen, welches Seitenverhältnis t die Quadrate haben müssen, um die Aufgabe zu erfüllen. Nicht schlecht!

Abbildung 6: Die Animation zeigt näherungsweise alle Lösungen für Drehwinkel zwischen 45° und 0°, was alle Seitenverhältnisse zwischen 0 und 1 ergibt.

Eigentlich interessierte aber die Umkehrung: Zu gegebenen Quadraten, deren Seiten im Verhältnis t stehen, wollen wir den Drehwinkel ω ausrechnen … Also ein zweiter Anlauf: Starten wir mit einem für beliebige Winkel α und β allgemein geltenden Additionstheorem:

$$\cos(\alpha+\beta)=\cos(\alpha)\cos(\beta)-\sin(\alpha)\sin(\beta)$$
(7)

Für α setzen wir unseren Winkel ω ein, für β aber 45°:

$$\cos\left(\omega+45^\circ\right)=\cos(\omega)\cos\left(45^\circ\right)-\sin(\omega)\sin\left(45^\circ\right)$$
(8)

Warum 45 Grad, also ein Achtel des Vollwinkels beziehungsweise $\frac{\pi}{4}$ im Bogenmaß? Weil da Sinus und Kosinus genau gleich sind, nämlich $\frac{1}{\sqrt{2}}$. Diesen Faktor klammern wir aus und erhalten als gemeinsamen Nenner √2:

$$\cos\left(\omega+45^\circ\right)=\frac{\cos(\omega)-\sin(\omega)}{\sqrt{2}}$$
(9)

Laut Gleichung (6) können wir für den Zähler t einsetzen:

$$\cos\left(\omega+45^\circ\right)=\frac{t}{\sqrt{2}}$$
(10)

Wir wenden den Arkuskosinus als Umkehrfunktion des Kosinus an, ziehen auf beiden Seiten der Gleichung 45° ab und erhalten die gewünschte Formel für den Drehwinkel:

$$\omega=\arccos\left(\frac{t}{\sqrt{2}}\right)-45^\circ$$
(11)

Der Pfad des Eckpunkts

Statt die Lage der Quadrate über einen Drehwinkel anzugeben, kann man auch direkt nach Koordinaten für die Eckpunkte der Quadrate fragen.

Bleibt ein Quadrat statisch, während die Lage des anderen Quadrats entsprechend dem Verhältnis der Seitenlängen variiert, beschreiben die Koordinaten einer Ecke des veränderlichen Quadrats einen Pfad. Erkennst du, was für eine Art Pfad ein Eckpunkt des kleinen Quadrats nimmt, wenn du ihm in der Animation (Abbildung 6) mit den Augen folgst? Es ist keine Gerade …

Abbildung 7: Die Quadrate liegen mittig in einem Koordinatensystem. Die Seiten des großen Quadrats sind parallel zur x- beziehungsweise y-Achse des Koordinatensystem ausgerichtet.

Für die folgenden Betrachtungen legen wir ein kartesisches Koordinatensystem so über das große Quadrat, das dessen Eckpunkte bei (1, 1), (−1, 1), (−1, −1) und (1, −1) liegen. Die Seitenlänge a ist damit auf 2 festgesetzt.

Polarkoordinaten fürs kleine Quadrat

Zuerst ermitteln wir im ersten Quadranten die Polarkoordinaten des Eckpunktes P des kleinen Quadrats. Polarkoordinaten, das sind der Abstand r des Punktes vom Ursprung des Koordinatensystems sowie die Richtung, in welcher er liegt. Die Richtung wird als Winkel θ zwischen der positiven x-Achse und der Strecke zwischen Punkt und Ursprung angegeben.

Abbildung 8: Der Punkt P hat die Polarkoordinaten r und θ. Eingezeichnet sind auch die Diagonalen und Mittelsenkrechten des kleinen Quadrats.

Weil das Quadrat sein Zentrum im Ursprung des Koordinatensystems hat, entspricht der Abstand vom Ursprung zum Eckpunkt des Quadrats der halben Länge seiner Diagonale. Die Diagonale misst in jedem Quadrat das √2-fache der Seitenlänge, sodass:

$$r=\frac{b\sqrt{2}}{2}$$
(12)

Laut Gleichung (5) ist b nichts anderes als a mal t. Da wir a bei diesen Betrachtungen auf 2 Längeneinheiten festgesetzt haben, können wir statt b auch 2t einsetzen, kürzen und erhalten:

$$r=t\sqrt{2}$$
(13)

Der Winkel θ setzt sich zusammen aus unserem Drehwinkel ω sowie 45°, was in jedem Quadrat der Winkel zwischen Diagonale und Mittelsenkrechte ist:

$$\theta=\omega+45^\circ$$
(14)

Ersetzen wir darin ω gemäß Gleichung (11), bekommen wir für den Winkel θ:

$$\theta=\arccos\left(\frac{t}{\sqrt{2}}\right)$$
(15)

Kartesische Koordinaten fürs kleine Quadrat

Im kartesischen Koordinatensystem stehen x- und y-Achse senkrecht aufeinander. Die kartesischen Koordinaten eines Punktes sind jeweils die Werte an jenen Stellen, wo das Lot vom Punkt auf die Achse fällt. In zwei Dimensionen entspricht die Länge des Lotes auf die y-Achse just der x-Koordinate des Punktes und umgekehrt die Länge des Lotes auf die x-Achse der y-Koordinate des Punktes.

Abbildung 9: Zwischen dem Ursprung und dem Eckpunkt P spannt sich ein Rechteck mit den Seitenlängen xP und yP sowie der Diagonalen r mit dem Steigungswinkel θ auf.

Die x-Koordinate des Eckpunktes ermitteln wir mithilfe des Kosinus aus den Polarkoordinaten:

$$x_P=r\cdot\cos(\theta)$$
(16)

Die Gleichungen (13) und (15) geben vor, was wir für r und θ einsetzen, sodass:

$$x_P=t\sqrt{2}\cdot\cos\left(\arccos\left(\frac{t}{\sqrt{2}}\right)\right)$$
(17)

Kosinus und Arkuskosinus heben sich auf. Die Wurzelausdrücke kürzen wir weg und es bleibt:

$$x_P=t^2$$
(18)

Die y-Koordinate ermitteln wir nun mithilfe des Satzes des Pythagoras:

$$y_P=\sqrt{r^2-{x_P}^2}$$
(19)

Wir ersetzen r und xP gemäß den Gleichungen (13) und (18):

$$y_P=\sqrt{\left(t\sqrt{2}\right)^2-\left(t^2\right)^2}$$
(20)

Vereinfacht:

$$y_P=t\sqrt{2-t^2}$$
(21)

Kreisbogenbeweis

Mit den parametrischen Gleichungen $x_P=t^2$ und $y_P=t\sqrt{2-t^2}$ zeichnen wir einen Pfad $P(t)$ im ersten Quadranten des Koordinatensystems. Der Parameter t, also das Verhältnis der Seitenlängen unserer Quadrate, variiert dabei wie gesagt von 0 bis 1. Entsprechende Pfade für die Eckpunkte in den anderen Quadranten ergeben sich aus der Symmetrie.

Abbildung 10: Während man die Größe des kleinen Vierecks ändert, laufen seine Eckpunkte auf Viertelkreisen, während seine Kanten zu jeder Zeit auf je eine Ecke des großen Vierecks zeigen.

Die Pfade sehen wie Viertelkreise aus. Dass es tatsächlich Kreisbögen sind, beweisen wir als Nächstes. Charakteristisch für den Kreis: All seine Punkte haben genau denselben Abstand von einem einzigen anderen Punkt, dem Mittelpunkt des Kreises. Für den Bogen im ersten Quadranten liegt jener Mittelpunkt M bei xM = 1 und yM = 0. Das beweisen wir gleich mit.

Der Abstand d zweier Punkte M und P im kartesischen Koordinatensystem lässt sich allgemein wie folgt berechnen. Dabei handelt es sich um eine Anwendung des Satzes des Pythagoras:

$$d_{M,P}=\sqrt{\left(x_P-x_M\right)^2+\left(y_P-y_M\right)^2}$$
(22)

Wir setzen die Koordinaten von P aus den Gleichungen (18) und (21) ein, ebenso die Koordinaten von M:

$$d_{M,P}=\sqrt{\left(t^2-1\right)^2+\left(t\sqrt{2-t^2}-0\right)^2}$$
(23)

Wir multiplizieren die quadrierten Klammerausdrücke aus und bekommen:

$$d_{M,P}=\sqrt{t^4-2t^2+1+t^2\left(2-t^2\right)}$$
(24)

Erfreulicherweise heben sich fast alle negativen und positiven Terme gegenseitig auf. Es bleibt unabhängig von unserem veränderlichen Parameter t ein konstanter Abstand übrig:

$$d_{M,P}=\sqrt{1}=1$$
(25)

Tada. ∎

Anhang

Abstand v benachbarter Ecken beider Quadrate

Schauen wir noch einmal auf das rechtwinklige Dreieck unten in Abbildung 5. Dort gilt mit dem Satz des Pythagoras:

$$a^2=(v+b)^2+v^2$$
(26)

Die Klammer multiplizieren wir – gegebenenfalls mithilfe der ersten binomischen Formel – aus und addieren passende Terme:

$$a^2=2v^2+2vb+b^2$$
(27)

Übrigens kommt man auf die gleiche Formel $a^2=4\frac{v(v+b)}{2}+b^2$, wenn man die Fläche des großen Quadrats aus den Flächen der vier rechtwinkligen Dreiecke und der Fläche des kleinen Quadrats zusammensetzt. Nun ziehen wir a ² beidseitig ab und teilen durch zwei, um eine quadratische Gleichung in Normalform für die Unbekannte v zu erhalten.

$$0=v^2+bv+\frac{b^2-a^2}{2}$$
(28)

Diese lösen wir mit der p-q-Formel:

$$v=-\frac{b}{2}\pm\sqrt{\frac{b^2}{4}-\frac{b^2-a^2}{2}}$$
(29)

Als Länge einer Strecke ist v positiv, womit von den zwei Lösungen der quadratischen Gleichung die negative entfällt und wir ± durch + ersetzen können. Außerdem vereinfachen wir die Differenz unter der Wurzel:

$$v=-\frac{b}{2}+\sqrt{\frac{2a^2-b^2}{4}}$$
(30)

Im Sinne der Gleichung (5) setzen wir für b jetzt a mal t ein, klammern a aus und als Ergebnis bleibt:

$$v=a\cdot\frac{-t+\sqrt{2-t^2}}{2}$$
(31)

Sinus und Kosinus des Drehwinkels ω

In Gleichung (1) ersetzen wir v gemäß Gleichung (31), kürzen a weg und es bleibt:

$$\sin(\omega)=\frac{-t+\sqrt{2-t^2}}{2}$$
(32)

Laut Gleichung (6) ist $\cos(\omega)=t+\sin(\omega)$. Darin ersetzen wir den Sinus von ω, sodass:

$$\cos(\omega)=t+\frac{-t+\sqrt{2-t^2}}{2}$$
(33)

Auf einem Bruchstrich:

$$\cos(\omega)=\frac{t+\sqrt{2-t^2}}{2}$$
(34)

Bronstein, Semendjajew, Musiol, Mühlig: Taschenbuch der Mathematik. 6. Auflage, Verlag Harri Deutsch, Frankfurt am Main, 2005. Seite 80, Formel (2.91). (http://d-nb.info/975715038)