Euklids Höhensatz verallgemeinert

Der Höhensatz des Euklid beschreibt einen Zusammenhang zwischen der Höhe eines rechtwinkligen Dreiecks, die senkrecht auf der längsten Seite steht, und den beiden Abschnitten jener Seite, in welche die Höhe sie teilt. Mit den Bezeichnungen aus Abbildung 1 lautet der Höhensatz:

$$h_C=\sqrt{c_A\cdot c_B}$$

Eine zweite Variante erhält man, wenn man beide Seiten quadriert:

$${h_C}^2=c_A\cdot c_B$$
Abbildung 1: In einem rechtwinkligen Dreieck ABC steht die Höhe hC im Punkt L auf der längsten Seite c. Deren Teilstück von A bis L heißt cA, das Teilstück von L bis B heißt cB.

Über das Verallgemeinern

In der Mathematik ist es ebenso wie in anderen Wissenschaften reizvoll, nicht bei einer spezifischen Beobachtung stehenzubleiben. Man kann sich stattdessen fragen, ob hinter einem Phänomen eine allgemeinere Gesetzmäßigkeit steckt, die man auch in anderen Situationen wiederfindet und die zu kennen einem nützlich sein kann.

Wenn man beispielsweise eines schönen Herbsttages eine Gruppe Kraniche am Himmel ziehen sieht und hört, kann man sich fragen, ob die Kraniche das in jedem Herbst tun. Andererseits könnte einen interessieren, ob auch andere Vögel von der Reiselust gepackt werden. Nach Verallgemeinerungen kann man also in verschiedene Richtungen suchen.

So kann man sich auch auf die Fährte von Verallgemeinerungen des Höhensatzes in verschiedene Richtungen begeben. Die Frage, die ich mir stellte und auf dieser Seite beantworte, ist: Wie kann man den Höhensatz auf alle Dreiecke und all ihre Seiten erweitern, sodass er also nicht nur für rechtwinklige Dreiecke und nicht nur für die Höhe auf ihrer längsten Seite gilt?

Abbildung 2: Ein Dreieck mit Winkel α, β, γ. Die Seite c wird auch hier durch die Höhe auf c in zwei Abschnitte cA und cB geteilt.

Zwei Dinge vorweg: Die Suche gelang, aber der verallgemeinerte Höhensatz ist etwas komplexer als jener des Euklid. Dass man Euklids Formel nicht gänzlich unverändert auf andere Fälle anwenden kann, sollte aber kaum mehr überraschen als der Umstand, dass man das Zugverhalten der Kraniche nicht unverändert auf andere Vogelarten übertragen kann.

Der verallgemeinerte Höhensatz reduziert sich allerdings im Fall rechtwinkliger Dreiecke wieder auf den euklidischen. Der Höhensatz des Euklid ist ein Spezialfall des verallgemeinerten Höhensatzes so wie die Reise der Kraniche ein Fall von Vogelzug im Allgemeinen ist.

Verallgemeinerter Höhensatz

Man kann viele Gleichungen für die Höhen im Dreieck aufstellen, aber ich wollte mich bei den Zutaten auf das beschränken, was auch Euklid benutzt: die Abschnitte cA und cB, die zusammen die ganze Seite c ergeben, sowie den gegenüberliegenden Winkel γ, der zwar bei Euklid nicht in der Formel auftaucht, aber in seiner Bedingung steckt, das Dreieck möge rechtwinklig sein. Meine Lösung:

In jedem Dreieck gilt für die Höhe auf c:

$$h_C=\frac{c}{2}\cdot\cot\gamma\pm\sqrt{\left(\frac{c}{2}\cdot\cot\gamma\right)^2+c_A\cdot c_B}$$

Im weiteren Verlauf dieser Seite beschreibe ich immer diesen Fall der Höhe auf c. Doch die Ausführungen lassen sich analog auf die anderen Höhen im Dreieck übertragen und so gelten auch:

$$\begin{align} h_A=\frac{a}{2}\cdot\cot\alpha\pm\sqrt{\left(\frac{a}{2}\cdot\cot\alpha\right)^2+a_B\cdot a_C}\\ h_B=\frac{b}{2}\cdot\cot\beta\pm\sqrt{\left(\frac{b}{2}\cdot\cot\beta\right)^2+b_A\cdot b_C} \end{align}$$

Das Zeichen „±“ in der Gleichung mag ins Auge springen. Es zeigt an, dass es zwei verschiedene Lösungen geben kann, wenn cA, cB, γ gegeben sind! Eine Möglichkeit erhält man, wenn man anstelle von „±“ addiert, und die andere, wenn man subtrahiert. Nur wenn das Ergebnis positiv ist, hat man eine Lösung, weil die Höhe im Dreieck eine positive Länge hat.

Wie ich auf dieses Ergebnis gekommen bin, ist nicht einfach im Detail zu beschreiben. Es beginnt mit einer Idee, was wie beispielsweise der Kosinussatz an Bausteinen nützlich sein könnte. Dann probiert man herum, was man an gewünschten Zutaten ergänzen kann und wie man – alles immer ohne Regeln zu verletzen – Symbole wegbekommt, auf die man verzichten möchte. Versuch und Irrtum und Intuition.

Aber bei dieser schwammigen Erklärung soll es nicht bleiben. Ich kann beweisen, dass die gefundene Formel korrekt ist. Der Beweis ist so etwas wie die Kurzform meines Lösungsweges, im Nachhinein bereinigt um unnötige Umwege und Sackgassen.

Lemma

Als Einstieg in den Beweis des verallgemeinerten Höhensatzes baue ich ein Lemma zusammen. Ein Lemma ist ein Hilfssatz. Dafür notiere ich zunächst einen Teil des Sinussatzes, der in jedem Dreieck gilt:

$$\frac{b}{\sin\beta}=\frac{c}{\sin\gamma}$$

Bekanntermaßen ist zudem der Sinus eines spitzen Winkels im rechtwinkligen Dreieck als Gegenkathete geteilt durch die Hypotenuse definiert. Wendet man diese Definition auf den Winkel β in jenem rechtwinkligen Dreieck an, welches in Abbildung 2 die Punkte B, C und L bilden, gilt:

$$\sin\beta=\frac{h_C}{a}$$

Diese Formel gilt aber auch, wenn der Winkel β wie in Abbildung 3 stumpf ist. Im Dreieck BLC entspricht dort zunächst der Sinus von β' dem Bruch aus hC und a. Aber zwei Winkel, die sich wie β und β' zu einem gestreckten Winkel ergänzen, besitzen immer den gleichen Sinus. Zu guter Letzt gilt die Formel auch für einen rechten Winkel wie in Abbildung 4. Der Sinus ist dann eins und hC und a sind deckungsgleich.

Abbildung 3: Bei stumpfem Winkel β liegt die Höhe hC außerhalb des Dreiecks. cA ist länger als c und cB ist negativ. In Summe ergeben sie weiterhin c.

Beide eben notierten Gleichungen enthalten den Sinus von β. Das gibt Gelegenheit, aus zweien eine zu machen, indem ich den Sinus von β im Sinussatz entsprechend der letzten Gleichung ersetze:

$$\frac{b}{\frac{h_C}{a}}=\frac{c}{\sin\gamma}$$

Löst man den Doppelbruch links auf und multipliziert auf beiden Seiten der Gleichung mit hC, steht das Lemma da. Im nächsten Abschnitt werde ich darauf zurückgreifen:

$$a\cdot b=\frac{c\cdot h_C}{\sin\gamma}$$

Beweis

Um den verallgemeinerten Höhensatz herzuleiten, wähle ich den Kosinussatz als Ausgangspunkt. Er gilt in jedem Dreieck:

$$c^2=a^2+b^2-2\cdot a\cdot b\cdot\cos\gamma$$

Durch die Höhe hC mit dem Lotfußpunkt L entstehen am Dreieck ABC in der Regel zwei rechtwinklige Dreiecke ALC und BCL, siehe Abbildung 2 und Abbildung 3. In diesen rechtwinkligen Dreiecken gilt der Satz des Pythogoras. Auf die beiden Dreiecke angewandt besagt er:

$$\begin{aligned} a^2&={c_B}^2+{h_C}^2\\ b^2&={c_A}^2+{h_C}^2 \end{aligned}$$

Wenn einer der Winkel α und β wie in Abbildung 4 ein rechter Winkel ist, ist die Höhe mit einer Seite deckungsgleich. Daher entstehen durch sie keine neuen Teildreiecke. Dennoch gelten beide Gleichungen, wie man leicht nachvollziehen kann.

Abbildung 4: In diesem Beispiel ist der Winkel β ein rechter Winkel.

Mithilfe dieser beiden pythagoräischen Sätze kann ich a ² und b ² im Kosinussatz ersetzen. Zudem kann ich im Kosinussatz die Seite c gegen die Summe ihrer Teilstrecken cA + cB tauschen. Insgesamt ergeben die Ersetzungen:

$$(c_A+c_B)^2={c_B}^2+{h_C}^2+{c_A}^2+{h_C}^2-2\cdot a\cdot b\cdot\cos\gamma$$

Mit der ersten binomischen Formel kann ich den Klammerausdruck auf der linken Seite der Gleichung auflösen. Auf der rechten Seite sortiere ich ein bisschen um:

$${c_A}^2+2\cdot c_A\cdot c_B+{c_B}^2={c_A}^2+{c_B}^2+2\cdot{h_C}^2-2\cdot a\cdot b\cdot\cos\gamma$$

Bis hierher wurde die Gleichung immer länger. Nun kann ich auf beiden Seiten aber cA ² sowie cB ² abziehen und beidseitig durch zwei teilen. Übrig bleibt nur noch:

$$c_A\cdot c_B={h_C}^2-a\cdot b\cdot\cos\gamma$$

Wenn ich das nach ${h_C}^2=c_A\cdot c_B+a\cdot b\cdot\cos\gamma$ umstelle, erinnert das schon sehr an die zweite Variante des euklidischen Höhensatzes. Man kann auch diese Formel als Verallgemeinerung des Höhensatzes bezeichnen. Aber sie wird noch nicht dem Anspruch gerecht, die Höhe nur aus den Teilabschnitten jener Seite, auf der die Höhe steht, und dem gegenüberliegenden Winkel zu errechnen. Um dies zu erreichen, muss noch das Produkt a ⋅ b verschwinden. Dank dem zuvor aufgestellten Lemma kann ich es ersetzen:

$$c_A\cdot c_B={h_C}^2-\frac{c\cdot h_C}{\sin\gamma}\cdot\cos\gamma$$

Der Kosinus (cos) geteilt durch den Sinus (sin) desselben Winkels wird auch kurz als Kotangens (cot) bezeichnet. Das vereinfacht die Formel gleich. Außerdem hole ich das Produkt cA ⋅ cB auf die rechte Seite herüber, indem ich es auf beiden Seiten der Gleichung abziehe. Damit bleibt:

$$0={h_C}^2-c\cdot h_C\cdot\cot\gamma-c_A\cdot c_B$$

Vielleicht erkennt man es nicht auf den ersten Blick, aber das ist nun ein Klassiker: eine quadratische Gleichung in Normalform, die man im Allgemeinen so darstellt: $0=x^2+p\cdot x+q$ . Im vorliegenden Fall entspricht $x=h_C$ und $p=-c\cdot\cot\gamma$ und $q=-c_A\cdot c_B$. Schön an der Normalform ist, dass es mit der sogenannten p-q-Formel

$$x_{1,2}=-\frac{p}{2}\pm\sqrt{\left(\frac{p}{2}\right)^2-q}$$

auch eine allgemeine Lösungsvorschrift gibt. In unserem Fall läuft das hinaus auf:

$$h_C=\frac{c}{2}\cdot\cot\gamma\pm\sqrt{\left(\frac{c}{2}\cdot\cot\gamma\right)^2+c_A\cdot c_B}$$

Damit ist der Beweis erbracht.

Wann gibt es zwei Lösungen?

In welchen Fällen gibt es keine eindeutige, sondern zwei Lösungen? Immer dann, wenn die Formel sowohl eine positive Zahl ergibt, wenn man für „±“ ein „+“ einsetzt, als auch, wenn man „−“ einsetzt. Das geschieht genau dann, wenn γ ein spitzer und entweder α oder β ein stumpfer Winkel ist und $(c\cdot\cot\gamma)^2+4\cdot c_A\cdot c_B>0$ gilt. Ich werde diese Bedingungen anhand der Gleichung erläutern.

$$h_C=\frac{c}{2}\cdot\cot\gamma\pm\sqrt{\left(\frac{c}{2}\cdot\cot\gamma\right)^2+c_A\cdot c_B}$$

Warum muss γ spitz sein?
Eine Quadratwurzel ist immer positiv oder null. Damit die rechte Seite der Gleichung unter dieser Voraussetzung positiv sein kann, wenn für „±“ ein „−“ eingesetzt wird, muss der Ausdruck davor größer als der Wurzelausdruck sein, insbesondere also größer als null. c ist immer positiv. Der Kotangens eines Winkels im Dreieck ist nur positiv, wenn der Winkel im Bogenmaß zwischen 0 und $\pi/2$ liegt.

Warum muss entweder α oder β stumpf sein?
Wie gesagt muss der Ausdruck vor „±“ größer als der Wurzelausdruck sein. Denkt man sich cA ⋅ cB unter der Wurzel weg, ist der Wurzelausdruck aber schon gleich groß wie jener vor „±“. Daher muss cA ⋅ cB negativ sein, um den Wurzelausdruck zu verringern. Ein Produkt ist negativ, wenn ein Faktor negativ ist. Eine Teilstrecke cA oder cB ist nur negativ, wenn α oder β wie in den Abbildungen 3 und 5 stumpf ist.

Warum muss $(c\cdot\cot\gamma)^2+4\cdot c_A\cdot c_B>0$ sein?
Der Ausdruck unter der Quadratwurzel darf nicht negativ sein, da es keine reelle Quadratwurzel einer negativen Zahl gibt. Bei der Suche nach zweideutigen Lösungen darf der Wurzelausdruck aber auch nicht null sein, was im Fall $(c\cdot\cot\gamma)^2+4\cdot c_A\cdot c_B=0$ gegeben wäre, weil sonst zweimal dasselbe Ergebnis herauskäme, wenn bei „±“ addiert oder subtrahiert wird.

Abbildung 5: Die Maße cA, cB und γ in diesem Dreieck gleichen denen in Abbildung 3 genau. Dennoch ist dieses Dreieck anders. Die Parameter cA, cB, γ charakterisieren also nicht jedes Dreieck eindeutig. Mehr als zwei Lösungen gibt es aber nie.

Euklid als Spezialfall

Zu guter Letzt möchte ich zeigen, dass der verallgemeinerte Höhensatz für die Höhe auf der Hypotenuse im rechtwinkligen Dreieck auf die kurze Formel Euklids schrumpft, wie man es erwarten würde. Ein rechter Winkel γ misst 90° beziehungsweise im Bogenmaß ausgedrückt $\pi/2$. Ich setze das ein:

$$h_C=\frac{c}{2}\cdot\cot\frac{\pi}{2}\pm\sqrt{\left(\frac{c}{2}\cdot\cot\frac{\pi}{2}\right)^2+c_A\cdot c_B}$$

Der Kotangens von $\pi/2$ ist nichts anderes als null. Da irgendetwas mal null wieder null ergibt, wird daraus

$$h_C=0\pm\sqrt{0+c_A\cdot c_B}$$

Positiv und damit gültig ist das Ergebnis hier nur, wenn man „+“ für „±“ einsetzt. Das gibt Euklids Höhensatz:

$$h_C=\sqrt{c_A\cdot c_B}$$