Potenzen des goldenen Schnitts

Der goldene Schnitt ist ein besonderes Verhältnis, das Menschen seit der Antike fasziniert. Man kann es mit der irrationalen Zahl

$$\phi=\frac{1+\sqrt{5}}{2}$$
(1)

ausdrücken. Du kannst die Herleitung des Wertes auf einer gesonderten Seite betrachten und findest dort ebenfalls dargelegt, dass die Gleichung

$$\phi=1+\frac{1}{\phi}$$
(2)

sowie die äquivalente quadratische Gleichung gelten:

$$\phi^2=\phi+1$$
(3)

Die Gleichungen werden auf dieser Seite eine Rolle spielen, wenn weitere ganzzahlige Potenzen von $\phi$, also zum Beispiel $\phi^3,\phi^4,\phi^5$, betrachtet werden und der Satz $\phi^n=F_n\phi+F_{n-1}$ bewiesen wird.

Die dritte Potenz

Spielen wir etwas mit $\phi^3$ herum … Was kann man darüber aussagen? Auf jeden Fall dies:

$$\phi^3=\phi^2\phi$$
(4)

Mit $\phi^2$ lässt sich gut weiterarbeiten, denn man kann es durch $\phi+1$ ersetzen:

$$\phi^3=(\phi+1)\phi$$
(5)

Ausmultipliziert wird daraus:

$$\phi^3=\phi^2+\phi$$
(6)

Da bietet sich erneut an, $\phi^2$ zu ersetzen:

$$\phi^3=(\phi+1)+\phi$$
(7)

Zusammengefasst bleibt:

$$\phi^3=2\phi+1$$
(8)

Dies ist für $\phi^3$ eine ähnliche Gleichung wie oben für $\phi^2$, in der $\phi$ auf der rechten Seite ohne Exponent steht. Bekommt man vergleichbare Gleichungen auch für höhere Potenzen von $\phi$ hin? Na klar …

Natürliche Exponenten und eine Vermutung

Wie bei der dritten Potenz von $\phi$ kann man auch bei weiteren Exponenten vorgehen. Für $\phi$ hoch 1 bis 8 kann man schreiben:

$$\begin{aligned} \phi^1&=1\phi+0\\ \phi^2&=1\phi+1\\ \phi^3&=2\phi+1\\ \phi^4&=3\phi+2\\ \phi^5&=5\phi+3\\ \phi^6&=8\phi+5\\ \phi^7&=13\phi+8 \end{aligned}$$
(9)

Fällt Dir etwas Besonderes auf?

Rechts der Gleichheitszeichen ergeben die Faktoren vor $\phi$ von oben nach unten gelesen die gleiche Folge wie die Summanden am Ende jeder Gleichung, nur um eine Zeile verschoben: (0), 1, 1, 2, 3, 5, 8 … Bei dieser Folge handelt es sich, soweit es bis dato zu sehen ist, um die berühmte Fibonacci-Folge.

Die Fibonacci-Folge erhält man, wenn man mit den Zahlen 0 und 1 beginnt und dann weitere Zahlen berechnet, indem man immer die beiden vorhergehenden addiert. Formal:

$$F_n=\begin{cases} 0&\textrm{wenn }\;n=0\\ 1&\textrm{wenn }\;n=1\\ F_{n-1}+F_{n-2}&\textrm{wenn }\;n>1 \end{cases}$$
(10)

Demnach ist:

$$\begin{aligned} F_0&=0\\ F_1&=1\\ F_2&=1\\ F_3&=2\\ F_4&=3\\ F_5&=5\\ F_6&=8\\ F_7&=13 \end{aligned}$$
(11)

und so weiter.

Nun liegt die Vermutung nahe, dass die Fibonacci-Zahlen nicht nur bei den ersten sieben Potenzen des goldenen Schnitts auftauchen, sondern dass das gleiche Schema auch bei höheren Potenzen zutrifft. Die Vermutung formal:

$$\phi^n=F_n\phi+F_{n-1}\;\textrm{ mit }\;n\in\mathbb{N}$$
(12)

Diese Vermutung soll nun bewiesen werden – und zwar durch vollständige Induktion. Dazu zunächst eine kurze Erklärung der Begriffe Induktion und Deduktion.

Deduktion und vollständige Induktion 🐮

Deduktion meint das Schließen vom Allgemeinen auf das Spezielle. Wenn beispielsweise nachts alle Katzen grau sind, dann muss auch Nachbars Katze nachts grau sein. Deduzieren ist eine tolle Sache und wird in der Mathematik ständig gemacht.

Induktion bezeichnet das Schließen vom Speziellen aufs Allgemeine. Wenn ich beispielsweise im Fernsehen eine lila Kuh gesehen habe, dann müssen alle Kühe lila sein. Ist das eine sinnvolle Schlussfolgerung? Nein! So kann man keinen mathematischen Beweis führen.

Was wäre aber, wenn wir uns jede einzelne Kuh anschauen, die es gibt, und jedes Mal feststellen, dass sie lila ist? Dann könnten wir mit Recht sagen, dass alle Kühe lila sind. Von allen Einzelfällen auf Allgemeingültigkeit schließen: Das ist vollständige Induktion.

Wenn Mathematiker von vollständiger Induktion sprechen, haben sie eine noch konkretere Vorstellung. Gemeint ist eine Technik, mit der man mit endlichem Aufwand sogar unendlich viele Einzelfälle abhaken kann, um eine allgemeine Aussage zu belegen.

Das funktioniert wie bei hintereinander aufgestellten Dominosteinen. Man muss nicht jeden einzelnen Stein mit der Hand anstupsen, um ihn umzuwerfen. Es genügt, den ersten Stein umzuwerfen und sich zu versichern, dass ein fallender Dominostein auch immer den nächsten umreißen muss.

Beweis

Für $n=1$ wäre gemäß der Vermutung:

$$\phi^1=F_1\phi+F_0$$
(13)

Setzt man $F_0=0$ und $F_1=1$ ein, ergibt das:

$$\phi^1=1\phi+0$$
(14)

Das ist nichts anderes als $\phi=\phi$ und damit korrekt! Der erste Dominostein ist gefallen.

Nun müssen wir sicherstellen, dass ein fallender Stein auch immer den nächsten mitreißt: Wir nehmen an, dass der m-te Stein gefallen ist, also dass die Vermutung im Fall $n=m$ gilt, und werden zeigen, dass die Vermutung dann auch für den Fall $n=m+1$ gilt. Das läuft ähnlich wie im Abschnitt Die dritte Potenz ab. Was kann man über $\phi^{m+1}$ aussagen? Wenigstens dies:

$$\phi^{m+1}=\phi^{m}\phi$$
(15)

Da die Vermutung für den Fall $n=m$ gilt, darf man statt $\phi^{m}$ auch $F_m\phi+F_{m-1}$ einsetzen:

$$\phi^{m+1}=(F_m\phi+F_{m-1})\phi$$
(16)

Ausmultipliziert wird daraus:

$$\phi^{m+1}=F_m\phi^2+F_{m-1}\phi$$
(17)

Da bietet sich an, $\phi^2$ durch $\phi+1$ zu ersetzen:

$$\phi^{m+1}=F_m(\phi+1)+F_{m-1}\phi$$
(18)

Ausmultipliziert wird daraus:

$$\phi^{m+1}=F_m\phi+F_m+F_{m-1}\phi$$
(19)

Nun können wir die Summanden umsortieren und $\phi$ ausklammern:

$$\phi^{m+1}=(F_m+F_{m-1})\phi+F_m$$
(20)

$F_m+F_{m-1}$ kann man durch $F_{m+1}$ ersetzen, denn die Summe zweier aufeinander­folgender Fibonacci-Zahlen ergibt die nächste Fibonacci-Zahl. So bleibt:

$$\phi^{m+1}=F_{m+1}\phi+F_m$$
(21)

Und das ist nichts anderes als die Vermutung erfüllt für $n=m+1$. Wenn der m-te Stein kippt, kippt also auch der nächste und daher kippen beim ersten angefangen alle Steine. ∎

Erweiterung der Fibonacci-Zahlen

Die Vermutung – oder nach ihrem Beweis besser: der Satz – gilt für natürliche (positive ganzzahlige) Exponenten des goldenen Schnitts. Warum eigentlich nicht auch für null und negative Zahlen?

Im Moment steht dem der Umstand entgegen, dass die Fibonacci-Zahlen, die in der Formel auftauchen, nur für Indizes ab null definiert sind. Das heißt, die ersten Fibonacci-Zahlen sind $F_0,F_1,F_2$, man bräuchte aber auch Zahlen wie $F_{-1},F_{-2},F_{-3}$, um Anlass für Hoffnung zu haben, den Satz auf alle ganzzahligen Exponenten erweitern zu können.

Na dann … Erweitern wir doch einfach die Fibonacci-Zahlen! Naheliegend und vermutlich nur so zu rechtfertigen ist, dass eine Erweiterung an den Startwerten 0 und 1 nichts ändert und auch die Bildungsregel der originalen Fibonacci-Folge beibehält:

$$F_n=F_{n-1}+F_{n-2}$$
(22)

Es geht also darum, von den Startwerten 0 und 1 unter Beachtung dieser Regel „rückwärts“ statt „vorwärts“ zu rechnen, um die negativen Indizes zu erschließen. Das Bildungsgesetz, dass eine Fibonacci-Zahl als Summe der beiden vorhergehenden definiert, muss so umgestellt werden, dass die vorhergehende Fibonacci-Zahl $F_{n-2}$ in Abhängigkeit der beiden folgenden dargestellt wird.

Zieht man auf beiden Seiten der Gleichung $F_{n-1}$ ab und vertauscht beide Seiten, erhält man:

$$F_{n-2}=F_n-F_{n-1}$$
(23)

Den Index kann man um zwei verschieben, indem man $n$ überall durch $n+2$ ersetzt, sodass:

$$F_n=F_{n+2}-F_{n+1}$$
(24)

Diese Formel können wir nun der Definition der Fibonacci-Zahlen hinzufügen und damit die erweiterten Fibonacci-Zahlen kreieren:

$$F_n=\begin{cases} F_{n+2}-F_{n+1}&\textrm{wenn }\;n<0\\ 0&\textrm{wenn }\;n=0\\ 1&\textrm{wenn }\;n=1\\ F_{n-1}+F_{n-2}&\textrm{wenn }\;n>1 \end{cases}$$
(25)

Hier sind einige der so erzeugten Zahlen:

$$\begin{aligned} F_0&=0\\ F_{-1}&=1\\ F_{-2}&=-1\\ F_{-3}&=2\\ F_{-4}&=-3\\ F_{-5}&=5\\ F_{-6}&=-8\\ F_{-7}&=13\\ \end{aligned}$$
(26)

Dir wird vielleicht auffallen, dass die Fibonacci-Zahlen mit negativem Index dem Betrag nach jenen mit positivem Index gleichen. Einziger Unterschied ist, dass bei geraden negativen Indizes auch der Wert ein negatives Vorzeichen hat. Man kann diesen Zusammenhang so ausdrücken:

$$F_{-n}=(-1)^{n+1}F_n$$
(27)

Ganzzahlige Exponenten

Nun, da die Fibonacci-Zahlen erweitert sind, ist es sinnvoll, den obigen Satz für alle ganzzahligen Exponenten zu formulieren, also auch negative:

$$\phi^n=F_n\phi+F_{n-1}\;\textrm{ mit }\;n\in\mathbb{Z}$$
(28)

Man könnte einige Werte einsetzen und sich mit dem Taschenrechner davon überzeugen, dass die Vermutung plausibel ist:

$$\begin{aligned} \phi^0&=0\phi+1\\ \phi^{-1}&=1\phi-1\\ \phi^{-2}&=-1\phi+2\\ \phi^{-3}&=2\phi-3\\ \phi^{-4}&=-3\phi+5\\ \phi^{-5}&=5\phi-8\\ \phi^{-6}&=-8\phi+13 \end{aligned}$$
(29)

Sicherheit gibt aber nur ein Beweis. Für positive Exponenten erfolgte er bereits, sodass nun der Rest belegt wird, wieder durch vollständige Induktion. Der erste Dominostein ist dieses Mal der Fall $n=0$:

$$\phi^0=F_0\phi+F_{-1}$$
(30)

Setzt man $F_0=0$ und $F_{-1}=1$ ein, ergibt das:

$$\phi^0=0\phi+1$$
(31)

Das ist nichts anderes als $1=1$ und stimmt! Der erste Dominostein ist gefallen.

Nun müssen wir sicherstellen, dass ein fallender Stein auch immer den nächsten mitreißt, wobei wir diesmal in die andere Richtung schubsen, um uns durch die negativen Zahlen zu arbeiten: Wir nehmen an, dass der m-te Stein gefallen ist, also dass die Vermutung im Fall $n=m$ gilt, und werden zeigen, dass die Vermutung dann auch für den Fall $n=m-1$ gilt. Für $\phi^{m-1}$ kann man schon einmal festhalten:

$$\phi^{m-1}=\frac{\phi^m}{\phi}$$
(32)

Da die Vermutung für den Fall $n=m$ gilt, darf man statt $\phi^{m}$ auch $F_m\phi+F_{m-1}$ einsetzen:

$$\phi^{m-1}=\frac{F_m\phi+F_{m-1}}{\phi}$$
(33)

Nimmt man Zähler und Nenner mit $\frac{1}{\phi}$ mal, wird aus dem Bruch:

$$\phi^{m-1}=F_m+\frac{F_{m-1}}{\phi}$$
(34)

Nun greifen wir auf die Beziehung $\phi=1+\frac{1}{\phi}$ zurück. Umgestellt wird daraus $\frac{1}{\phi}=\phi-1$. Dem zufolge wird hier ersetzt, sodass sich diese Gleichung ergibt:

$$\phi^{m-1}=F_m+F_{m-1}(\phi-1)$$
(35)

Ausmultipliziert wird daraus:

$$\phi^{m-1}=F_m+F_{m-1}\phi-F_{m-1}$$
(36)

Nun können wir die Summanden umgruppieren:

$$\phi^{m-1}=F_{m-1}\phi+(F_m-F_{m-1})$$
(37)

Den Klammerausdruck kann man durch $F_{m-2}$ ersetzen:

$$\phi^{m-1}=F_{m-1}\phi+F_{m-2}$$
(38)

Und das ist nichts anderes als die Vermutung erfüllt für $n=m-1$. Wenn der m-te Stein kippt, kippt also auch der nächste und daher kippen beim ersten angefangen alle Steine. ∎

Rätselfrage zum Schluss

Was ergeben alle Potenzen des goldenen Schnitts mit ganzzahligen negativen Exponenten zusammen­addiert? Das heißt, welchen Wert hat die unendliche Reihe:

$$\sum_{n=1}^\infty\phi^{-n}=\frac{1}{\phi^{1}}+\frac{1}{\phi^{2}}+\frac{1}{\phi^{3}}+\frac{1}{\phi^{4}}+\ldots$$
(39)