Warte nicht auf den Erwartungswert

Der Erwartungswert ist ein grundlegender Begriff in der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Auf dieser Seite findest Du zunächst eine Definition, welche Leser, die sich noch nicht damit auskennen, allerdings „zu erschlagen“ droht. Deshalb empfehle ich ausdrücklich die darauf folgende Erläuterung an einem Beispiel.

Die Bedeutung des Erwartungswertes umfassend aufzuzeigen, ist nicht Zweck dieser Seite, aber die dargestellte Beziehung zum Durchschnitt soll zumindest ein intuitives Gefühl für den Erwartungswert vermitteln. Die Bemerkung am Ende dazu, was der Erwartungswert nicht ist, ist eine wesentliche Motivation für diesen Artikel.

Definition: Erwartungswert einer diskreten Zufallsvariable

Der Erwartungswert ist die Summe der mit den jeweiligen Wahrscheinlichkeiten ihres Eintretens gewichteten möglichen Ausprägungen einer Zufallsvariable bei einem Zufallsexperiment. Diskret bedeutet, dass die Anzahl der Ausprägungen abzählbar ist.

Wird eine Zufallsvariable mit $X$, die Anzahl möglicher Ausprägungen mit $m$, die $k$-te Ausprägung mit $x_k$ und deren Wahrscheinlichkeit mit $p_k$ bezeichnet, dann berechnet sich der Erwartungswert $\operatorname{E}(X)$ also wie folgt:

$$\operatorname{E}(X)=\sum_{k=1}^m p_kx_k$$

Erklärung an einem Beispiel

Ein Kind hat Kleeblätter in einem Jutebeutel gesammelt und gut durchgeschüttelt. Unser Zufallsexperiment ist das Ziehen eines Blattes aus dem Beutel. Als Zufallsvariable $X$ nehmen wir die Zähligkeit („Blättrigkeit“) des zu ziehenden Kleeblattes: Ein vierblättriges Kleeblatt gäbe den Wert 4.

Die möglichen Ergebnisse des Zufallsexperimentes, auch Ausprägungen der Zufallsvariable genannt, sind die im Jutebeutel vertretenen Zähligkeiten. So mag es im Beutel dreiblättrige, vierblättrige und sechsblättrige Kleeblätter, aber keine anderen geben. Wir können diese Ausprägungen $x_1=3$, $x_2=4$ und $x_3=6$ nennen. Die Anzahl möglicher Ausprägungen ist somit $m=3$.

Die Wahrscheinlichkeit, ein dreiblättriges Kleeblatt zu ziehen, nennen wir dann $p_1$. Formell wird das oft als $p_1=\operatorname{P}(X=x_1)$ ausgedrückt, wobei das große P für probability steht. Die Formel will sagen: $p_1$ ist gleich die Wahrscheinlichkeit, dass die Zufallsvariable $X$ die Ausprägung $x_1$ annimmt. Entsprechend sind $p_2$ und $p_3$ die Wahrscheinlichkeiten fürs Ziehen eines vier- beziehungsweise sechsblättrigen Kleeblattes.

Die Gewichtung einer Ausprägung mit ihrer Wahrscheinlichkeit drückt sich mathematisch einfach dadurch aus, dass man beide miteinander malnimmt. In unserem Beispiel des Kleeblattziehens ist also der Erwartungswert

$$\operatorname{E}(X)=p_1x_1+p_2x_2+p_3x_3$$

beziehungsweise, wenn wir für die Ausprägungen die bekannten Werte einsetzen:

$$\operatorname{E}(X)=p_1\cdot 3+p_2\cdot 4+p_3\cdot 6$$

Erwartungswert bei Gleichverteilung

Von einer Gleichverteilung spricht man, wenn die Wahrscheinlichkeiten aller möglichen Ausprägungen eines Zufallsexperimentes gleich hoch sind. Die Wahrscheinlichkeit einer jeden Ausprägung ist dann der Kehrwert der Anzahl möglicher Ausprägungen, $p_k=\frac{1}{m}$, und kann aus der Summe ausgeklammert werden:

$$\operatorname{E}(X_\mathrm{gleichv})=\frac{1}{m}\sum_{k=1}^m x_k$$

Ein wohlvertrautes Beispiel ist das Würfeln mit einem ungezinkten Würfel. Beim Würfeln gibt es $m=6$ mögliche und gleich wahrscheinliche Ausprägungen der Augenzahl: $x_1=1$, $x_2=2$, $x_3=3$, $x_4=4$, $x_5=5$, $x_6=6$. Der Erwartungswert ist dann:

$$\operatorname{E}(X)=\frac{1}{6}\cdot(1+2+3+4+5+6)=\frac{7}{2}$$

Beziehung zum Durchschnitt

Ganz ähnlich wie die Formel für den Erwartungswert einer Gleichverteilung sieht in der Statistik die Formel für den Durchschnitt, das arithmetische Mittel, aus:

$$\bar{x}_\mathrm{arithm}=\frac{1}{n}\sum_{i=1}^n x_i$$

Beim arithmetischen Mittel werden aber keine Wahrscheinlichkeiten möglicher Werte, sondern relative Häufigkeiten tatsächlicher Werte betrachtet. Beim Beispiel des Würfelns wäre $n$ die Anzahl getätigter Würfe und $x_i$ die Augenzahl beim $i$-ten Wurf. Laut dem Gesetz der großen Zahl tendiert das arithmetische Mittel bei einer großen Zahl von Versuchen zum Erwartungswert.

Was der Erwartungswert nicht ist

Es gibt vieles, was der Erwartungswert nicht ist, aber eine Betonung wert ist dies: Der Erwartungswert braucht nicht die wahrscheinlichste Ausprägung eines Zufallsexperimentes zu sein. Am Beispiel des Würfelns sieht man, dass ein Eintreten des Erwartungswertes – nämlich $\frac{7}{2}$ beziehungsweise 3,5 Augen – sogar unmöglich sein kann. Der Erwartungswert ist also kein Wert, dessen Eintreten man bei einem Zufallsexperiment erwarten sollte.