Manche Gleichungen lösen sich selbst

Mathematik stand in jedem Schuljahr auf dem Stundenplan. Über die Jahre lösten wir unzählige Aufgaben und lernten dabei verschiedene Aspekte des Rechnens und der Mathematik kennen – Zahlen, Grundrechenarten, Variablen, Gleichungen, Winkelfunktionen und viel, viel mehr. Ein Anblick wie der Folgende dürfte also den meisten Menschen aus ihrer Schulzeit irgendwie bekannt vorkommen, auch wenn er unterschiedliche Gefühle hervorrufen mag:

$$\sin\left(\frac{x}{2}\right)+1=x$$

Welchen Wert hat x?

Die Gleichung wirkt noch zahm. In der Schule haben wir einiges gesehen, was dem Anschein nach schwerer zu bezwingen war, oder? Tatsächlich habe ich in der Schule aber nicht gelernt, wie man eine Gleichung dieser Art löst, die doch aus allzu vertrauten Komponenten besteht.

Die Gleichung hat allerdings etwas mit vielen anderen gemeinsam: Auf der einen Seite steht nur die Unbekannte x und berechnet man die andere Seite der Gleichung mit einem beliebigen Wert anstelle von x und wiederholt dies mit dem Resultat, löst sich das Problem quasi von selbst. Verständlich? Höchstwahrscheinlich nicht, aber anhand eines Beispiels dürfte es klar werden. Anstatt x setze ich auf der linken Seite 100 als einen aus der Luft gegriffenen Wert ein und schaue, was das ergibt:

$$\sin\left(\frac{100}{2}\right)+1=0.73762514\ldots$$

100 und 0.73762514… sind verschieden. In der Aufgabe steht an ihren Stellen aber jeweils das gleiche x, also müssten auch die Zahlen gleich sein, um die Aufgabe zu lösen. Mein geratener Wert 100 ist also falsch. Der Knüller ist jedoch, dass die ausgerechnete Zahl 0.73762514… garantiert näher an der Lösung ist als mein falsch geratener Wert. Dass das hier so sein muss, zeige ich später. Zunächst mache ich aber weiter, indem ich anstatt 100 nun 0.73762514… einsetze, schaue was dabei herauskommt, und die Prozedur wiederhole:

$$\begin{aligned} \sin\left(\frac{100}{2}\right)+1 &= 0.73762514\ldots\\ \sin\left(\frac{0.73762514\ldots}{2}\right)+1 &= 1.36050810\ldots\\ \sin\left(\frac{1.36050810\ldots}{2}\right)+1 &= 1.62899054\ldots\\ \sin\left(\frac{1.62899054\ldots}{2}\right)+1 &= 1.72737933\ldots\\ \sin\left(\frac{1.72737933\ldots}{2}\right)+1 &= 1.76024467\ldots\\ \sin\left(\frac{1.76024467\ldots}{2}\right)+1 &= 1.77081682\ldots\\ \sin\left(\frac{1.77081682\ldots}{2}\right)+1 &= 1.77417356\ldots\\ \sin\left(\frac{1.77417356\ldots}{2}\right)+1 &= 1.77523483\ldots\\ \sin\left(\frac{1.77523483\ldots}{2}\right)+1 &= 1.77556991\ldots\\ \sin\left(\frac{1.77556991\ldots}{2}\right)+1 &= 1.77567566\ldots\\ &\vdots\\ \sin\left(\frac{1.77572442\ldots}{2}\right)+1 &= 1.77572442\ldots \end{aligned}$$

Offenbar nähere ich mich einer Zahl immer weiter an, bis sich nach ein paar Durchgängen die für x links eingesetzte Zahl (bei der betrachteten Anzahl Nachkommastellen) nicht mehr vom Ergebnis auf der rechten Seite unterscheidet. Eine Lösung ist gefunden: x₁ = 1.77572442… erfüllt die Aufgabe.

Eine feine Sache, oder? Ganz nach dem Prinzip garbage in, gold out. Leider funktioniert die Methode nicht bei jeder Gleichung. Woher weiß ich also, dass sie hier funktionieren muss?

Zuerst einmal muss die Unbekannte allein auf einer Seite der Gleichung stehen – wie oft sie auf der anderen Seite steht, ist vorerst egal. Das ist bei der Beispielaufgabe schon der Fall, ansonsten hätte man diesen Zustand durch Umstellen nach x herstellen können. Das reicht allerdings noch nicht. Auch die andere Seite der Gleichung muss bestimmte Eigenschaften aufweisen. In diesem Fall treffen zwei Kriterien zu, die mich letztendlich der Anwendbarkeit versichern. Sie werden im Folgenden vorgestellt; es handelt sich dabei um keinen detaillierten Beweis, sondern nur um eine Beweisskizze.

Schmetterlingskriterium

Betrachtet man die beiden Seiten der Gleichung …

$$\sin\left(\frac{x}{2}\right)+1=x$$

… als Funktionen f und g von x …

$$\begin{aligned} f\colon x &\mapsto\sin\left(\frac{x}{2}\right)+1 \\ g\colon x &\mapsto x \end{aligned}$$

… dann fragt ihre Gleichsetzung $f(x)=g(x)$ nach Stellen x₁, x₂ etc., an denen sich die Graphen jener Funktionen schneiden beziehungsweise berühren. Jede solche Stelle entspricht einer Lösung. Ob und wie viele Lösungen es gibt, hängt von der Aufgabe ab. Das Schmetterlingskriterium wird nur von Gleichungen mit einer Lösung erfüllt.

Oben schrieb ich: „Der Knüller ist jedoch, dass die ausgerechnete Zahl … garantiert näher an der Lösung ist als mein falsch geratener Wert.“ Das ist zunächst eine Behauptung, die sich als Ungleichung mit $x\neq x_1$ wie folgt …

$$|f(x)-x_1|<|x-x_1|$$

… schreiben lässt, wobei x₁ eine Lösung ist und x jeden anderen Wert annehmen kann.1 Was kann man sich darunter bildlich vorstellen? Es bedeutet, dass der Graph der Funktion f in einem schmetterlingsförmigen Bereich liegen soll, wie er in Abbildung 1 hellblau dargestellt ist.

Abbildung 1: Der Graph der Funktion g ist hier als dunkelblaue Gerade in ein Koordinatensystem eingezeichnet, wobei die Funktionswerte auf der y-Achse aufgetragen sind. Die schmetterlingsförmige, hellblaue Fläche entspricht der Ungleichung $|y-x_1|<|x-x_1|$.

In Abbildung 2 werden beispielhaft drei Graphen von Funktionen eingezeichnet. Auf eine trifft die Behauptung zu; sie erfüllt also das Schmetterlingskriterium. Folglich funktioniert bei ihr die Rate-und-Wiederhol-Methode zur Lösungsfindung von Gleichungen.2

Abbildung 2: Alle Graphen gehen durch den Punkt (x₁, x₁). Der grüne Funktionsgraph liegt ansonsten im Bereich des Schmetterlings. Damit erfüllt er das Schmetterlingskriterium. Der gelbe und der rote Graph hingegen erfüllen das Kriterium nicht.

Einen Haken hat das Schmetterlingskriterium allerdings: Solange man die Lösung x₁ nicht kennt, weiß man nicht, wo genau die Schmetterlingsfläche sich befindet. Woher weiß ich also, dass der Graph von f für die Beispielaufgabe wirklich im Schmetterling liegt?

Ableitungskriterium

Wenn eine Lösung existiert, dann muss der Graph von f durch den Punkt (x₁, x₁) gehen, denn das ist ja gerade die Lösung. Die Grenzen des Schmetterlings3 spannen die Schmetterlingsfläche von diesem Punkt aus mit Steigungen von 1 und −1 auf. Wenn f stetig ist, der Graph der Funktion also „keine abrupten Sprünge macht“, selbst überall eine Steigung zwischen −1 und 1 annimmt und höchstens an einzelnen Punkten Steigungen von −1 oder 1 erreicht oder nicht differenzierbar ist, dann kann f die Schmetterlingsfläche von jenem Punkt aus nicht verlassen.

Im Beispiel ist $f(x)=\sin\left(\frac{x}{2}\right)+1$. Die Ableitung, also jene Funktion, deren Werte die Steigung von f wiedergeben, lautet $f'(x)=\frac{1}{2}\cos\left(\frac{x}{2}\right)$. Sie habe ich mittels der Kettenregel der Differentialrechnung ermittelt; dem Mathematikunterricht sei gedankt. Diese Ableitung nimmt nur Werte von −½ bis ½ an. Somit ist das Ableitungskriterium für die Beispielaufgabe erfüllt und garantiert, dass die Rate-und-Wiederhol-Methode zur Lösungsfindung tatsächlich funktionieren muss.4 Die Ableitung verrät sogar, dass im Beispiel der Abstand zur richtigen Lösung mit jeder Wiederholung mindestens halbiert wird.


  1. Freilich kann nur jeder Wert aus dem Definitionsbereich der Funktion genommen werden, im Beispiel sind das die reellen Zahlen. Die Bildmenge muss ferner Teilmenge des Definitionsbereiches sein, da der Funktionswert wieder als Argument in die Funktion eingespeist wird. Das ist hier gegeben.
  2. Liegt der Graph einer Funktion im Schmetterling, funktioniert die Methode. Ragt der Graph aus dem Schmetterling heraus, bedeutet das aber nicht, dass die Methode scheitern muss. Beispielsweise lässt sich mit der Methode die Lösung der Gleichung $e^{-x}=x$ finden, obwohl der Graph der Funktion $x\mapsto e^{-x}$ den Schmetterling verlässt.
  3. Die Grenzgeraden des Schmetterlings sind $y=x$ und $y=-x+2x_1$, sie gehören aber selbst nicht zur Schmetterlingsfläche.
  4. Ist das Ableitungskriterium erfüllt, liegt der Graph der Funktion im Schmetterling und die Methode funktioniert. Ist das Ableitungskriterium nicht erfüllt, impliziert das aber nicht, dass der Graph die Schmetterlingsfläche verlässt. Beispielsweise erfüllt die Funktion $x\mapsto 10^{-\left(x-1\right)^2}$ zwar nicht das Ableitungskriterium, aber trotzdem das Schmetterlingskriterium.