JUNEE

„Tag für Tag rotten wir Arten aus, oder?“
„Nein“, antwortete Lagny, „Nein, ich nicht.“
„Komm schon, Lagny, du weißt was ich meine“, hakte Konrad nach, „Warum suchen wir dort draußen nach Leben, während wir Menschen auf der Erde jeden Tag Lebensformen vernichten?“
Auf seinem Stuhl vollführte Lagny einer Vierteldrehung, „Neugier. Wir sind die neugierigsten aller Tiere. Schau mal, mein Neffe, noch kann er nicht laufen, aber die Welt entdecken will er bereits. Wenn der Kleine sich an der Schrankwand oder den Streben im Gitterbett hochzieht, dann macht er das nicht, weil er seinen Eltern imponieren möchte. Der macht das, weil er mehr von der Welt sehen möchte.“
„Warte ein paar Jahre. Dann ist der Kleine nicht mehr so klein und seine Gier nicht mehr so neu“, erwiderte Konrad.
Lagny zog eine Augenbraue hoch. „Gier?“
„Genau.“
„Bei dieser Mission geht es um Wissenschaft, die pure Erkenntnis.“
„Du bist ein Träumer, Lagny“, Konrad atmete tief durch, „Wer finanziert denn die Mission?“
„Wissbegierige Steuerzahler.“
„Steuerzahler, genau. Vom kleinen Mann, der immer auf der Suche nach einem sicheren Arbeitsplatz ist, über Unternehmer, die Rohstoffen und neuen Märkten nachjagen, bis zu Finanzinvestoren, die nur nach Profit lechzen. ‚Erkenntnis‘ ist der Name der Möhre, die man dir vor die Nase hält, damit du den Karren dorthin ziehst, wo die anderen hin wollen.“
„Wenn es so wäre: Warum kommst du sechs mal pro Woche her und ziehst mit?“
Konrad öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder, ohne etwas entgegnet zu haben. Lagny lachte.
„Von irgend etwas muss man schließlich leben“, sagte Konrad dann, „Das Haus ist nicht abbezahlt, meine Frau, die Kinder … Raumfahrt war mein Kindheitstraum.“
„Also doch ein Überzeugungstäter!“, Lagny grinste.
Konrads Blick folgte einer roten Blase, die langsam in der Lavalampe neben seinem Monitor aufstieg. „Überzeugungen ändern sich“, murmelte er.

So oder so ähnlich hatten sie dieses Gespräch schon unzählige Male geführt. Seit knapp sieben Jahren schwirrte JUNEE nun durch das Sonnensystem. Konrad und Lagny gehörten zum technischen Personal der Mission. Den spannendsten Moment in ihrem bisherigen Verlauf hatte der Start der unbemannten Raumsonde markiert. Später hatten die Schwerkraftumlenkungen an Venus und Erde Abwechslung gebracht. Während der vier Gravitationsmanöver wurden umfangreiche Tests durchgeführt, minimale Kurskorrekturen mit den Triebwerken vorgenommen, Presseerklärungen verfasst. Ansonsten glänzte JUNEE durch Unauffälligkeit: Im Gegensatz zur ersten Jupiter-Langzeitmission Galileo plagten das JUNEE-Team keine schwerwiegenden Probleme.

Spektakuläres hingegen versprachen die kommenden Jahre: Beim Tanz durchs jovianische System standen die Vermessung der Magnetosphäre, das Durchleuchten der Wolken des Gasriesen, eine Analyse seiner schwachen Ringe und die Kartierung der zahlreichen kleinen Steinmonde auf dem Plan. Ios Vulkanismus würde bei Vorbeiflügen ebenso wie die Geologie Europas, Ganymeds und Kallistos akribisch erforscht werden. Höhepunkt sollte die Landung des Mayr-Moduls auf Europa werden, dem verheißungsvollsten Kandidaten für außerirdisches Leben im ganzen Sonnensystem: etwas kleiner als der Erdmond, doch mit mehr Wasser gesegnet als der blaue Planet.

„Kennst du den Unterschied zwischen der Finanzierung einer Mission und dem Bezahlen ihres Preises? Columbus’ Reise nach …“, Konrad zeichnete mit seinen Fingern Gänsefüßchen in die Luft, „… ‚Indien‘ finanzierte Isabella von Kastilien. Den Preis dafür zahlte Amerika …“
„… mit dem größten Völkermord der Geschichte. Ja-ja. Aber wir fliegen ohne Schwerter nach Europa.“
„Millionen Ureinwohner starben an eingeschleppten Seuchen. Lagny, wer garantiert, dass JUNEE steril ist?“
„Wir haben alles Menschenmögliche getan, um genau das sicherzustellen.“
„Und wenn das nicht genug war?“, im Aufstehen zog Konrad eine Zigarettenschachtel aus seiner Brusttasche, „Ich geh mal vor die Tür.“
„Tu das, die frische Luft wird dir guttun“, sagte Lagny mit einem Augenzwinkern und wandte sich seinem Rechner zu.

Rasch bildete sich Gänsehaut auf Konrads Armen, doch er zitterte nicht. Den Zigarettenrauch aus seinen Lungen blies er in den klaren Nachthimmel. Generationen von Seefahrern hatten sich orientiert, indem sie diese Sterne beobachteten. Unsichtbar, nicht weit vom hellen Jupiter entfernt, glitt auch jenes ‚Schiff‘ durch den stillen Raum, dessen Lotse Konrad war.

„Alles klar?“, fragte er, als er das Büro wieder betrat.
„Hm“, Lagny kratzte mit der Linken seinen rechten Unterarm.
Als Konrads Blick auf seinen Bildschirm fiel, kreischte er auf, „Lagny! Was hast du getan?“
Lagny lächelte. Dann sagte er mit fester Stimme: „Weißt du, du hast mich schon vor langem überzeugt: Was wir hier tun, ist irre! Unverantwortlich. Du hast vollkommen Recht.“
Konrad wurde bleich. Einen Moment lang stand er reglos da. Dann sprang er auf seinen Drehstuhl, um seine Finger sogleich mit rasender Geschwindigkeit über die Tastatur laufen zu lassen. „Mist, Mist, Mist“, wiederholte er immer wieder. Ebenso plötzlich, wie er losgetippt hatte, hielt Konrad inne. Er lehnte sich zurück, sog zischend Luft zwischen den Zähnen ein und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht.
„Was hast du nur angerichtet? Lagny, du Schwachkopf. Warum um Himmels Willen?“, Konrad griff zum Telefon und drückte die Schnellwahltaste für den Sicherheitsdienst.
„Ich weiß. Du musst das tun“, sagte Lagny ruhig, „Es ist alles in Ordnung.“

Während Lagny vom Wachschutz aus dem Raumfahrtkontrollzentrum geleitet wurde, schossen die verhängnisvollen Anweisungen, die er in der Zigarettenpause seines Kollegen gefunkt hatte, JUNEE mit Lichtgeschwindigkeit entgegen. Mehr als eine halbe Stunde brauchten die Signale, bis sie die Sonde erreichten. Doch nichts auf der Welt, kein noch so guter Lotse am Boden, konnte sie aufhalten. JUNEE aktivierte das Mayr-Modul viel zu früh, löste es durch Zünden kleiner Sprengladungen und schob es mit Federkraft von sich fort. Mit Schrittgeschwindigkeit nur, doch unwiederbringlich, entfernte sich Mayr vom Mutterschiff.