Knipsen mit und gegen’s Licht

Das menschliche Auge und der glibberige Bildprozessor, den wir Gehirn nennen, sind fantastische Errungenschaften der Evolution. Dank ihnen erscheint uns bei eingeschalteter Deckenbeleuchtung im Wohnzimmer unsere Umgebung ebenso „normal“ hell wie im Freien bei blauem Himmel, sowohl mit der Sonne im Nacken als auch auf dem Gesicht – zumindest solange wir nicht direkt in die Sonne schauen.

Während wir die Welt in verschiedenen Situationen vergleichbar hell wahrnehmen, unterscheidet sich die tatsächliche Lichtintensität enorm. Gewöhnliche Sensoren in Kompaktkameras oder die bis vor wenigen Jahren vorherrschenden Filmrollen können ohne Langzeitbelichtung mit der Anpassungsleistung unserer Augen noch nicht mithalten.

Gleiches gilt für den sogenannten Dynamikumfang. Damit ist gemeint, welche Helligkeitsunterschiede gleichzeitig aufgenommen werden können, also zum Beispiel wie gut man gleichzeitig Dinge im Schatten und daneben im strahlenden Sonnenlicht sehen kann. Da ist das Team aus Augen und Hirn handelsüblichen Fotoapparaten ebenfalls überlegen.

Fotos werden von der Lichtintensität also stärker beeinflusst als unsere Wahrnehmung der Szenerie vor Ort. Wenn man dies nicht beachtet, macht sich beim Betrachten der Bilder später vielleicht Enttäuschung breit, weil man nicht die erhofften Eindrücke eingefangen hat. Weiß man hingegen Bescheid, kann man beim Knipsen gezielt auf sein Wunschbild hinwirken.

Bild 1: Gegenlichtaufnahme einer Baumkrone und des Himmels

Der besseren Anschaulichkeit halber nahm ich die Beispielbilder dieser Seite mit der Billigkamera Praktica DPix 9000 auf, bei der Probleme deutlicher als bei vielen anderen Fotoapparaten zu Tage treten.

Im ersten Bild einer Baumkrone, das „links an der Sonne vorbei“ fotografiert wurde, ist das Grün der jungen Blätter naturgetreu belichtet. Allerdings ist der eigentlich blaue Himmel in der rechten Bildhälfte komplett weiß, weil die Helligkeit dort den Dynamikumfang von Kamera und Bilddatei arg übersteigt. Was kann die Kamera dagegen machen? Kürzer belichten zum Beispiel, wie im zweiten Bild:

Bild 2: Gegenlichtaufnahme einer Baumkrone mit kurzer Belichtungszeit

Im kürzer belichteten zweiten Bild ist schon mehr Himmelsblau zu sehen, obwohl sich am rechten Rand noch immer eine Menge strukturloses Weiß breit macht. Das Mehr an Blau im Himmel wurde allerdings mit einer Abdunklung des Blattwerks bezahlt. Wollte man durch noch kürzere Belichtung den Himmel weiter an den menschlichen Eindruck anpassen, dann würden die Äste und Blätter wohl schwarz.

Die Helligkeitsunterschiede im Gegenlicht überfordern das Vermögen dieses Fotoapparates, ein der menschlichen Wahrnehmung ähnliches Bild zu konservieren. Möchte man ein solches, muss man aber nicht verzweifeln, sondern nur am Baum vorbeigehen und sich umdrehen.

Bild 3: Baumkrone und Himmel, geknipst mit der Sonne im Rücken

Das dritte Bild zeigt die gleiche Baumkrone aus einer anderen Richtung. Mit der Sonne im Rücken sind die Helligkeitsunterschiede zwischen Himmel und Blättern geringer. Beide werden in satten Farben abgebildet. Wer das mag, aber die Baumkrone in der linken Bildhälfte behalten möchte, findet eine von mehreren Lösungen in der Spiegelung des Ergebnisses. Das funktioniert sowohl am Computer als auch mit klassischem Film.

Bild 4: Haus im Gegenlicht

Das vierte Bild zeigt ein Haus im Gegenlicht. Außer dem geweißten Himmel zeigen sich hier auch Farbspiele, die durch seitlich einfallendes Licht in der Linse entstehen. Dieser Effekt ließe sich zwar bei manchen Kameramodellen durch eine Gegenlichtblende oder einfach durch eine an der richtigen Stelle außerhalb des Bildbereichs gehaltenen Hand reduzieren. Doch wer einen blauen Himmel wünscht, stellt sich beim Knipsen am besten gleich anders zur Sonne.

Bild 5: Haus, geknipst mit der Sonne im Rücken

Viele Gebäude sind von außen betrachtet etwa spiegelsymmetrisch gebaut. Bei Ihnen kann man die eigene Position zur Sonne leicht wechseln, ohne das Motiv wesentlich zu verändern, wie das fünfte Bild mit blauem Himmel zeigt. Einen auffälligen Unterschied gibt es hier allerdings: Bei dieser Aufnahme ist ein Laternenpfahl im Bild. Stört einen dieser oder etwas anderes am Blickwinkel, gibt es eine Alternative.

Wenn man seine Position zur Sonne nicht verändern kann, kann man die Sonne ihre Position zu einem ändern lassen. Präziser ausgedrückt: Man nutzt aus, dass sich die Erde mitsamt dem Haus je nach Tageszeit anders zur Sonne dreht. In der Umgebung des eigenen Wohnortes ist es leicht, zur geeigneten Uhrzeit am Schauplatz aufzutauchen.

Bei guter Vorausplanung ist das zumindest für den Besuch ausgesuchter Sehenswürdigkeiten sogar auf Reisen eine Option. So hatte ich mich bei einer Wanderung über die Kyritzer Platte bewusst für den Weg von Osten nach Westen entschieden, weil ich so im vormittäglichen Kyritz das Bild eines bestimmten kleinen Hauses mit der Sonne im Rücken knipsen konnte.

Passt all das nicht, steht einem auch die Möglichkeit offen, dasselbe Motiv mehrmals mit verschiedenen Belichtungseinstellungen abzulichten. Aus den unterschiedlichen Aufnahmen fügt man die jeweils optimal belichteten Bildbestandteile dann zu einem neuen Bild zusammen. Das aber ist Stoff für einen anderen Artikel …