Des Riesen Bären Katze

Riese

„Zum Geburtstag wünsche ich mir eine Katze“, sagte der kleine Bär eines Tages.
„Soso“, meinte der Riese, „bist du denn bereits groß genug, um für eine Katze zu sorgen?“
„Ja“, antwortete darauf der kleine Bär, „groß bin ich fürwahr!“
Während er das sagte, strengte sich der kleine Bär mächtig an, noch ein Stück größer als an gewöhnlichen Tagen zu sein. Der Riese jedoch zweifelte, ob der kleine Bär eine solche Verantwortung tatsächlich schon tragen konnte.
„Zudem“, meinte der Riese, „verschenkt man keine Tiere. Wenn man einer Katze von ganzem Herzen ein Heim geben möchte …“
„Au ja!“, rief der kleine Bär da mit glänzenden Augen.
Der Riese fuhr fort: „… dann wandert man selbst den weiten, beschwerlichen Weg zur Katzenmanufaktur, auf dass man das richtige Kätzchen dort finde.“
„Na gut“, befand der kleine Bär, „aber wann gehen wir los?“
„Diese Herausforderung musst du ganz allein meistern, kleiner Bär“, entgegnete der Riese bedächtig.
„A-a-alleine?“
In den unvorbereiteten Bauch des kleinen Bären nistete sich ein flaues Gefühl ein. Noch nie zuvor war er ganz allein auf sich gestellt, niemals hatte der kleine Bär eine Reise ohne Begleitung angetreten. Doch blieb ihm etwas anderes übrig, um seine Sehnsucht zu stillen?

So packte der kleine Bär all seinen Mut zusammen, Proviant dazu, warf sich einen Schal um den Hals, atmete ganz tief durch und tapste hinaus in die verschneite Landschaft. Als es Nacht wurde, bevor der kleine Bär sein Ziel erreichte, grub er sich eine Höhle in den Schnee. Erschöpft vom langen Wandern merkte der kleine Bär nicht, wie darin der Schlaf an ihn schlich und sich einer Decke gleich über ihm ausbreitete.

Silvester

Als der kleine Bär am Morgen aus seiner Höhle trat, streckte er all seine Glieder und reckte sich. Da sah er zu seiner Freude die rauchenden Schlote der Katzenfabrik in der Ferne. Er schüttelte die letzten Flocken Müdigkeit aus seinem Fell. Bald darauf klopfte er an das Tor der großen Manufaktur.

„Guten Morgen“, rief der kleine Bär, als im Tor zuerst eine Klappe so hoch über ihm aufsprang, dass er nicht hindurchschauen konnte. Riegel klackten. Dann öffnete ein Mann das schwere, knarrende Tor.
„Guten Tag, mein Herr“, grüßte der, „wer sind Sie, wo kommen Sie her und mit welchem Begehr?“
„Ich bin ich“, erklärte der kleine Bär, „Ich komme von zuhause und bitte um eine Katze.“
„Das trifft sich gut“, entgegnete der Mann, „zumal Sie hier, mein Herr, vor der Katzenmanufaktur Silvester stehen. Sie sprechen mit ihrem Inhaber.“
„Großartig“, befand der kleine Bär.
Herr Silvester daraufhin: „Wir führen dieser Tage Säbelzahntiger sowie Hauskatzen im Angebot. Mit dem Frühjahrskatalog werden obendrein Weidenkätzchen in unser Programm aufgenommen – wir nehmen Vorbestellungen entgegen. Wonach verlangt Ihr Herz, mein Herr?“
„Eine Hauskatze bitte“, antwortete der kleine Bär freudig.
„Sehr gerne, mein Herr. Das macht günstige fünnef Unzen an Silber von Ihnen“, meinte Herr Silvester.
„S-s-silber?“
In den unvorbereiteten Magen des kleinen Bären zog auf einmal ein flaues Gefühl ein. Noch nie zuvor hatte er Geld benötigt oder besessen. Woher sollte er einen solchen Schatz nehmen?

Herr Silvester schien des kleinen Bären Sorgen zu bemerken, denn er sagte:
„Im Ort ist zurzeit ein Zirkus zu Gast. Vielleicht kann ein Herr wie Sie sich dort verdingen?“
So gewann der kleine Bär frische Zuversicht. Er überquerte sogleich die Brücke zum nahegelegenen Ort.

Kolerika

Über einem mit Wimpeln geschmückten Zelt prangte der Schriftzug Zirkus Kolerika. Der kleine Bär wandte sich an den Eintrittskartenverkäufer, der ihm den Pfad zum Hintereingang empfahl, denn: „Direktor Grieselgram hasst Schausteller am Besucherportal.“
So stapfte der kleine Bär um das Zelt und wartete dort geduldig, wie es ihm der Verkäufer geraten hatte.

Eine Viertelstunde verging, bevor der Zirkusdirektor wie hingezaubert urplötzlich vor dem kleinen Bären stand und unumwunden fragte: „Also was willst du?“
„Ähm – ich – Katze“, stammelte der kleine Bär verblüfft. Vor Schreck hatte er für einen Moment ganz vergessen, wieso er am Zirkus war.
„Ich hab nicht ewig Zeit!“, fiel ihm da Direktor Grieselgram ins Wort.
„Ich – ich möchte im Zirkus auftreten“, brachte der kleine Bär endlich hervor.
„Zwei Vorstellungen, fünf Silberunzen“, bestimmte Direktor Grieselgram.
„Großartig“, befand der kleine Bär.
„Nur kannst du was?“, wollte der Zirkusdirektor barsch wissen.
„Ähm“, begann der kleine Bär. Er hatte gar nicht darüber nachgedacht, welches Kunststück er vollbringen könnte. Zum Glück fiel ihm ein, was er beim Riesen gelernt hatte.
„Ich kann famos Wurzeln ziehen“, sagte der kleine Bär, „und bin mit Summen vertraut. Außerdem kann ich Purzelbäume schlagen.“
„Honig schlecken auch, gell?“, hakte der Direktor nach.
„Au ja!“, rief der kleine Bär mit glänzenden Augen.
„Verschwinde, Schmarotzer!“, fuhr Grieselgram ihn jedoch an, „Ein Bär, der brummt, an Wurzeln reißt und Bäume haut – das soll ein Kunststück sein? Wage es ja nicht, Troll, mir ein weiteres Mal Zeit zu rauben!“
„Aber …“, wandte der kleine Bär kleinlaut ein, doch der Zirkusdirektor hatte ihm schon den Rücken zugekehrt und verschwand schimpfend im Zelt.

Dem kleinen Bären schossen Tränen in die Augen. Er lief davon so schnell er konnte. Ihn überkam eine solche Einsamkeit, dass er ohne Pause nach Hause zum Riesen rennen wollte.

Flora

„Hey, kleiner Bär!“
Wer hatte da gerufen? Der kleine Bär stoppte. Neben dem Zelt des Zirkus Kolerika stand vor einer winzigen Schaubude eine Frau mit Zylinder und winkte den kleinen Bären zu sich.
„Herzlich willkommen in Floras Flohzirkus“, grüßte Flora. Dann erkundigte sie sich beim kleinen Bären, weshalb ihm so traurig zumute sei. Der kleine Bär erzählte ihr schluchzend, was ihm widerfahren war.

„Och, wie gemein“, meinte Flora, „Doch lass hören: Was ist die Wurzel aus sechzehn?“
„Vier“, antworte der kleine Bär, „denn vier mal vier ist sechzehn.“
„Fein“, sagte Flora, „Die Wurzel aus neunundvierzig?“
„Sieben“, entgegnete der kleine Bär, „denn sieben mal sieben macht neunundvierzig“.
„Toll“, meinte Flora und fragte weiter: „Wie viel hat man, wenn man die Zahlen von eins bis zwölf zusammennimmt?“
Der kleine Bär überlegte kurz, bevor er das Rätsel löste: „Achtundsiebzig.“
„Wundervoll!“, rief Flora Beifall klatschend, sodass es dem kleinen Bären wieder ein bisschen besser ging.
„Du beherrschst eine stattliche Kunst, kleiner Bär“, lobte Flora, „doch leider gibt es in meinem Zirkus keine Bühne, die groß genug für dich ist.“
Der kleine Bär ließ seinen Kopf hängen, denn die Erinnerung an den Preis einer Katze betrübte ihn neuerlich. Flora aber sagte:
„Zwar ist mein Einkommen klein, doch für zwei Unzen will ich Flöhe kaufen. Wo juckt es dich, kleiner Bär?“
Er zeigte ihr die Stellen hinter seinen Ohren, woraufhin Flora ihn kraulte, bis sie verkündete: „Hab sie!“
Der kleine Bär wies auf seinen Hals. Flora kraulte und wurde auch dort fündig. Weiter ging es über dem Stummelschwanz. Zu guter Letzt drehte sich der kleine Bär auf den Rücken. Flora wuschelte ihm durch das Brustfell. Der kleine Bär brummte wohlig, bis Flora vermelden konnte: „Erwischt!“

Mit zwei Unzen Silber verabschiedete sich der kleine Bär gestärkten Mutes von Flora.

Felinator

Der kleine Bär schlug den Weg zur Manufaktur Silvester ein. Er wusste wohl, dass er nicht einmal genug Geld für eine halbe Katze gesammelt hatte. Bloß welche Wahl hatte er ansonsten?

„Guten Tag, mein Herr. Waren Ihre Unternehmungen von Erfolg gekrönt?“, erkundigte sich Herr Silvester sogleich.
Der kleine Bär streckte ihm zögerlich seine zwei Silberunzen entgegen: „Das ist mein ganzes Vermögen.“
„Nun, mein Herr, das wundert mich sehr. Gewiss vermögen Sie mehr, nur wissen es nicht“, erwiderte der Fabrikant.
Der kleine Bär schaute ihn fragend an.
Herr Silvester sprach: „Von zwei Unzen lässt sich ein schmaler Laib Katusknete nebst der Fahrt im Felinator finanzieren. Leisten Sie den Rest selbst, mag ihr Wunsch am Ende in Erfüllung gehen.“
„Au ja!“, freute sich der kleine Bär, obgleich er keinen Schimmer von der Katzenproduktion hatte.
Herr Silvester demonstrierte, wie die Arbeiter im Handumdrehen aus einem Klumpen ein zusammengerolltes Kätzchen formten, ihm Gesichtszüge und Krallen einkratzten. Der kleine Bär tat es ihnen gleich. Allerdings dauerte bei ihm eine gute halbe Stunde, was ein Arbeiter in wenigen Augenblicken vollbrachte.
„Charaktervoll“, würdigte Herr Silvester die leicht deformierte Knetfigur.
„Töw!“, sagte der kleine Bär, zupfte sich rasch einige Haare aus, die er dem Kätzchen als Schnurrhaare ansteckte, und war zufrieden.

Herr Silvester legte die Knetkatze aufs Fließband. Langsam bewegte sie sich auf die mächtige, stampfende Maschine zu, die Herr Silvester als Felinator vorstellte. Danach öffnete er eine Tür zu einem weiteren Raum.
„Mein Herr, hören Sie das?“, fragte er den kleinen Bären.
„Ja“, sagte dieser, denn er hörte ein vielstimmiges Maunen aus dem Raum schallen.
„Das ist der Klang hundert hungriger Hauskatzen“, erläuterte Herr Silvester, „Wenn sie erwacht, wird Ihre Katze sich nach einer Mahlzeit verzehren.“

Maus

Der kleine Bär verfügte über kein Silber mehr für Katzenfutter. Daher tapste er in der Nähe der Manufaktur Silvester auf der Suche nach einer Maus durch den Schnee. Ein flaues Gefühl machte sich in seinem Bauch breit. Der kleine Bär hatte nämlich noch nie im Leben eine flinke Maus gefangen. Seine Hoffnung schwand so schnell, wie die Sonne auf den Horizont zueilte.

Der kleine Bär seufzte.
„Grobian! Stell deine Tatze gefälligst woanders hin“, fiepte wie zur Antwort eine hohe Stimme.
Der kleine Bär sah nach unten und stellte fest, dass er versehentlich einer Maus auf den Schwanz getreten war.
„Das tut mir leid“, entschuldigte er sich.
„Das will ich auch hoffen!“, empörte sich die Maus.
„Aber ich kann dich leider nicht gehen lassen“, fuhr der kleine Bär fort, „Auf mich wartet eine hungrige Katze, die nichts lieber fressen mag als Mäuse.“
Was?“, quiekte da die Maus, „Was sagst du da?“
„Ja“, bekräftigte der kleine Bär, „Leider fehlt mir eine Münze für Katzenfutter.“
„Aber ich kann dir doch ’ne Münze geben“, wandte die Maus hastig ein.
„Wirklich?“, fragte der kleine Bär.
„’Türlich. Ich lauf ganz schnell in meinen Bau und hol’ sie“, versicherte die Maus.
„Na gut“, sagte der kleine Bär. Schwupp verschwand die Maus in einem Loch – und tauchte nicht mehr auf. Der kleine Bär wartete eine ganze Weile, bis er annahm, dass die Maus wohl aufgehalten wurde. Er kratzte das Mauseloch weiter auf und rief so laut er konnte hinein: „Mau-aus!“
Aus der Tiefe des Loches piepste es zurück: „Lass mich in Ruh’!“
„Ich will doch nur meine Münze!“, erwiderte der kleine Bär.
„Welche Münze?“, fiepte die Maus, „Ich kenn’ keine Münze. Hau ab!“
Der kleine Bär winselte verzweifelt, weil er merkte, dass die Maus ihn überlistet hatte.

Als die Sonne hinter den Baumwipfeln versank, stand der kleine Bär wieder vor dem Tor der Katzenfabrik. In seinem Fang hielt er einen frisch gefangenen Fisch.

Blitz

Auf dem Tisch lag reglos ein zauseliger Katzenkörper. Der kleine Bär starrte gebannt darauf. Unglaublich, was der Felinator vollbracht hatte.

„Nun braucht es einen Blitz, um in der Katze den Funken des Lebens zu zünden“, erklärte Herr Silvester.
„Na gut“, meinte der kleine Bär, „Warten wir also auf ein Gewitter.“
„Mein Herr, Sie befinden sich in einer Fabrik“, sagte der Unternehmer lachend, „Die Produktion kann auf Unwetter nicht warten. Wir erzeugen unsere eigenen Blitze.“
Der kleine Bär staunte.
„In diesem Fall knappen Kapitals“, gab Herr Silvester bekannt, „werden allerdings Sie den Blitz selbst entfesseln müssen, mein Herr.“
„I-i-ich?“
Im kleinen Bären stieg Panik auf. Für einen Moment dachte er daran, die Flucht zu ergreifen. Dann aber blieb er doch tapfer und lauschte aufmerksam den Anweisungen Herrn Silvesters, der den Katzenkörper in einem Korb hoch in die Luft zog. Der kleine Bär stieg in ein großes Holzfass, welches liegend in einem Gestell aufgehängt war. Als der kleine Bär im Fass lostrabte, drehte es sich und trieb einen Riemen an. Das Band führte hinauf in eine mächtige Stahlkugel. Bis er aus der Puste kam, lief der kleine Bär so schnell er konnte. Herr Silvester ließ sodann einen zweiten Stahlball in Richtung des ersten sausen. Mit vor Schreck aufgerissenen Augen sah der kleine Bär, dass der Katzenkorb genau an der Stelle hing, wo eine in die andere Kugel einschlagen musste. Doch just bevor der Korb zerschmettert worden wäre, hielt der zweite Stahlball in der Luft inne; im selben Moment schlug ein Blitz zwischen den Kugeln durch den Katzenkörper. Die Kugel pendelte zurück. Ein klägliches Maunen zerschnitt die Luft in der Halle der Manufaktur Silvester.

Dem kleinen Bären schien es, als wäre die Welt stehengeblieben. Hätte Herr Silvester nicht „Schnell, den Fisch!“ gerufen, während er den Korb zügig hinab ließ – wer weiß, ob des kleinen Bären Herz überhaupt weitergepocht hätte.

Trio

Als der erste Sonnenstrahl am Morgen durch die Fenster der Manufaktur Silvester fiel, brach der kleine Bär mit seiner Katze auf. Zuerst kamen sie nur langsam voran, denn die Katze stand noch wackelig auf ihren Beinen. Ferner untersuchte sie fasziniert jeden neuen Stein, der aus dem Schnee hervorguckte. Als sie erschöpft war, hob der kleine Bär sie auf seinen Rücken, wo sich die Katze zusammenrollte und sich angekuschelt tragen lies. Der kleine Bär ruhte nicht, als die Dunkelheit über sie einbrach, sondern wanderte das letzte Stück des Weges im Schein des Mondes durch ihm vertrauten Wald.

Nachdem sie einen Wiedersehensfreudentanz aufgeführt hatten, feierten Riese, Bär und Katze ein Fest.
„Groß bist du geworden!“, sagte der Riese.
„Auf meinem Rücken hockt eine Katze“, erklärte der kleine Bär.
„Das auch“, meinte der Riese, „Das auch.“