Das Wohlfühlzimmer

Auf dem unheimlich gemütlichen Stuhl träumte Lena, was sie sagen würde, wenn sie in das Wohlfühlzimmer käme. Sie überlegte hin und her, hin und her.1 Dem Wohlfühlzimmer-Schild gegenüber saß sie; sie sah aber verschiedene Versionen ihres näher rückenden Gespräches. Vor und zurück. Nach einem Blick auf die Uhr forderte die fiese2 Vorzimmerdame Lena auf, einzutreten.4

Weil das Wohlfühlzimmer in Lenas Vorstellung anders6 als in ‚Wirklichkeit‘7 ausschaute, brach ihr Plan von ihrem Auftritt zusammen. Übrig blieb allein ein gehauchtes „Hallo“.

„Guten Tag …“, grüßte sie der Mann in dem schönen Raum und stockte und blätterte in der frischen Kundenmappe.
„Lena“, sagten beide gleichzeitig. Fast gleichzeitig lächelten8 sie.
„Mein Name ist Ralf“ und außerdem bot der Mann seine Hand an. Nach kurzem Zögern schüttelte Lena diese, obwohl9 sich ihre Hand schweiß-feucht anfühlte. Ralf schenkte Lena eine Platzkarte, sie fand die dazugehörige Ottomane10 und legte sich. Bald begann sie von ‚Gott und der Welt‘ zu erzählen und kam dann über deren Einflüsse auf ihre Gefühlswelt auf ihr Gefühlswelt zu sprechen. Nur ‚ab und zu‘ stellte Ralf die ‚eine oder andere‘ Frage, wobei er seine Kundin geschickt auf dem Weg hin zu ihrem Problem12 begleitete. Er nahm einen sehr geringen Teil des Gesprächs für sich in Anspruch,13 außer …

„Lena. Entschuldigen Sie, wenn ich sie unterbreche, aber ich denke ich habe eine gute Nachricht für Sie, die Sie interessieren wird.“
„Ja?“
„Ich sehe über Ihnen gar keine ‚dunkle Wolke schweben, die nur darauf wartet, Sie nasszuregnen‘. Ich möchte nicht behaupten, dass Sie die Unwahrheit sagen oder sich etwas einbilden … Ich möchte Sie bitten, die Möglich…“
„Ich weiß.“
„Ja?“
„Das ist das Wohlfühlzimmer.“
„…“
„Es hat eine Decke. Die Wolke ist da. Darüber … über dem Dach.“
„Ja … Natürlich, ein echtes Wetterphänomen.“
„Na … ja. Ich bin mir sicher, dass sie irgendwie mit mir zusammenhängt. Sie wandert schließlich mit, über mir. Wenn ich hin und her geh [lächelt], dann macht sie das auch.“
„… Lena, haben Sie schon einmal versucht, davonzufliegen?“
„Was?“
„Ja.“
„Ich bin nicht verrückt!“
„Nein … nein. Mit dem Flugzeug – in den Süden. Bei höheren Temperaturen besitzt die Luft eine größere Fähigkeit Wasser zu speichern. Die kondensierten Tropfen einer Wolke verdunsten und gehen folglich in den gasförmigen Zustand über. Die Konsequenz ist …“
„Ein blauer Himmel.“
„Genau, Lena.“
„Ich hab mir das auch schon überlegt. Aber was ist, wenn sich meine Wolke eben nicht so verhält? Immerhin ist das ja nicht normal, dass da überhaupt eine Wolke über mir schwebt.“
„… Sagen Sie es mir.“
„Die bewerfen mich mit Steinen.“
„Wer bewirft Sie mit Steinen?“
„Na die Tunesier, weil ich doch ihren schönen blauen Himmel kaputt gemacht habe. Ich meine, mit der Wolke genau über mir bei einem strahlenden Himmel sieht man mich meilenweit. Da kann ich mich nicht verstecken. Und dann bin ich tot, wegen den Steinen.“
„Wegen der Steine.“
„Was?“
„Lena, möglicherweise tun Sie den Tunesiern sogar einen Gefallen. Sehen Sie, die Menschen dort schätzen keinen wolkenfreien Himmel – sie finden ihn langweilig. Sie kennen ihn von gestern, vorgestern und den dreihundert Tagen zuvor. Ich denke nicht, dass Ihnen jemand diese Wolke verübeln möchte. Sie haben nichts zu verlieren. Verschwindet die Wolke, sind Sie von dem Problem befreit.“
„…“
„Sollte das Problem sich nicht auflösen, können Sie noch immer zu mir kommen. Ihre Platzkarte haben Sie.“
„Ja.“
„Werden Sie das machen, Lena?“
„Klar … Bezahlt das eigentlich die Krankenkasse?“
„Nein.“
„Tja.“
„Ich weiß, Sie haben bald Geburtstag …“
„Ich krieg das schon hin,14 danke.“
„Sehr gut … Sie sagten, Sie wären dann tot, wegen der Steine. Das klingt sehr fatalistisch. Ungewöhnlich fatalistisch … Wovor haben Sie Angst?“
„Jetzt konkret?“
„Im Allgemeinen.“
„Also …
[…]

Als Lena das Wohlfühlzimmer durch den Ausgang verließ und auf die Straße trat, fühlte sie sich erfüllt von Hoffnung und Zuversicht. Sie feierte sogar das Wiedersehen der schweren Regenwolke mit einem freundlichen Gruß an dieselbe.


  1. Lena meinte ‚hin und her‘ sei eine besonders schöne Form. Man kann sie ‚drehen und wenden wie man will‘. Man kann die Orte, zu denen man ‚hin‘ läuft oder von denen man ‚her‘ kommt vertauschen und trotzdem würde man in der neuen Lage ‚hin und her‘ anstatt ‚her und hin‘ gehen. ‚Hin und her‘ versorgten Lena mit Sicherheit: wenn sich alles um Lena drehte, fand sie in solchen Worten Halt.
  2. Bevor Lena sich zu dem Psychiater auf den Weg machte, hatte sie daheim nervös auf die Uhr gestarrt … Wie starrt man nervös? Jedenfalls hielt sie es nicht länger aus. So lief Lena zu früh los und erreichte eine Stunde vor ihrem Termin die Wirkungsstätte3 des Psychiaters außer Atem. Die Vorzimmerdame lächelte zwar freundlich, doch als Lena sich auf den ihr zugewiesenen Stuhl setzte, bemerkte sie im Augenwinkel den verächtlichen Blick der Vorzimmerdame auf deren Uhr.
    Einen Warteraum suchte man hier vergebens.
  3. Der Psychiater empfand den Begriff ‚Praxis‘ als unangenehm, ‚Service-Center‘ als zu prätentiös. Den Raum, in welchem er seine Kunden empfing, hatte er Wohlfühlzimmer getauft, jedoch versäumt, der ganzen … ‚Praxis‘ einen Namen zu geben.
  4. Wartende Besucher und Kunden, merkten nie, wann ihre Vorgänger das Wohlfühlzimmer verließen. Es besaß sowohl einen Ein- als auch einen Ausgang.5
  5. Es heißt tatsächlich ‚einen Ein-‘ sowie ‚einen Ausgang besitzen‘. Einmal behauptete ein Kunde, es hieße ‚einen Ein- und ausen Ausgang besitzen‘. Aufgrund seiner wahnhaften Selbstüberschätzung und der Unfähigkeit, Hinweise nicht als persönliche Kritik aufzufassen, konnte der Kunde allerdings nicht von seinem Fehler überzeugt werden. Im Gegenteil: er fühlte sich angegriffen und meinte, die wiederholten Erklärungsversuche wären im Neid des Psychiaters auf den hohen sozialen Status des Kunden begründet.
  6. Die Fenster des Wohlfühlzimmers wurden nicht von geblümten Vorhängen gerahmt.
  7. Der Autor besitzt Vorbehalte gegen die ‚Sinnhaftigkeit‘ von ‚Wirklichkeit‘.
  8. Der Psychiater erkannte das gleichzeitige „Lena“ als willkommene Chance das gewöhnliche ‚Eis‘ zwischen Psychiater und seinem Kunden ‚zu brechen‘. Sein Lächeln bestand somit zu Teilen aus Freude über diese Erkenntnis, aus Professionalität, aus Grinsen über das Lächeln seiner Erkenntnis wegen und aus einem unbewussten Sympathieausdruck für Lenas schwarzes Halsband.
    Lenas Lächeln war eine Mischung aus Erleichterung über das Lächeln des Psychiaters und siehe 9.
  9. Lena verfolgte die bzw. wurde von der fixen Idee ‚wie du mir, so ich dir‘ verfolgt.
  10. Im Wohlfühlzimmer stand neben dem spartanischen aber stilvollen, bestimmt unheimlich teuren Stuhl des Psychiaters nur dieses Sitzmöbel. Der Psychiater hatte während seines Studiums von der Bedeutung eines Zugehörigkeits-, Heimats- oder Rückzugsgefühles gelesen und versuchte mit der Platzkarte ein solches in seinen Kunden zu erwecken. Unterbewusst assoziierte er diese Stimmungen mit Besitzsucht, deshalb ‚lief‘ ihm ein leichter ‚Schauer den Rücken hinunter‘, wenn er eine Karte11 überreichte. Auf die Einstellung seinen Kunden gegenüber wirkte sich dies nicht weiter aus.
  11. Jeder Kunde bekam eine persönliche Karte, die er behalten durfte. Einmal verlor eine Kundin ihre Karte und konnte ihre Tränen über das Missgeschick nicht zurückhalten. Sie litt allgemein an Verlustangst und befürchtete so den Psychiater für immer ‚verprellt‘ zu haben. Dieser schenkte ihr bei ihrem nächsten Besuch ein ‚halbes Dutzend‘ neuer Karten, sodass die Kundin sich keine Sorgen mehr machen musste. Nach einigen Tagen zeigte die Geste den erhofften Erfolg.
  12. Der Psychiater nahm die Probleme seiner Kunden ernst. Er beging nicht den Fehler, sie durch Umschreibungen wie ‚Angelegenheit‘ zu tabuisieren.
  13. Den Anteil der eigenen Redezeit ‚pflegte‘ der Psychiater seinen Kunden nicht in Rechnung zu stellen. Pauschal veranschlagte er dafür acht Prozent des Gespräches, was ‚im Schnitt‘ auch zutraf.
  14. Der Psychiater stellte Lena am Ende der Sitzung ein Krankschreiben für zwei Wochen aus. Lena flog schon am übernächsten Tag nach Tunis. Sie schloss sich einer kleinen Studentengruppe an und unternahm eine Kamelreise zu verschiedenen Oasen sowie Fundstätten steinzeitlicher Werkzeuge und Felsmalereien.

Diese Geschichte vom 31. Januar 2003 wurde in der ersten Ausgabe von Leumond veröffentlicht, welche sich mit Wolken auseinandersetzte.

Als ich diese Geschichte schrieb, stand ich unter dem Einfluss von David Foster Wallace’ „Kurze Interviews mit fiesen Männern“. David Foster Wallace nahm sich nach langer Depression vor einem Jahr in New York das Leben. :-\